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Gesellschaft

Kolumne: Berliner ohne Tugend?

Gero Schließ
31. Dezember 2017

Pünktlich, strebsam, erfolgreich - so sehen viele im Ausland die Deutschen. Doch die Wirklichkeit ist anders, meint DW-Kolumnist Gero Schließ. Vor allem Berlin arbeitet hart daran, mit Stereotypen gründlich aufzuräumen.

Junge Menschen vor dem Reichstag in Berlin
Bild: picture-alliance/dpa/W.Kumm

Kennen Sie das? Sie werden überschwänglich gelobt, aber eigentlich ist das Lob - nun ja - nicht ganz gerechtfertigt. Das Essen sei wieder einmal exzellent, loben die Gäste, dabei ist Ihnen ganz kräftig die Gewürzhand ausgerutscht. Du siehst ja phantastisch aus, sagt der Kollege, dabei sitzt du gerade mit tiefen Augenringen vor dem PC und hast die letzte Nacht durchgemacht.

Illusionen über Deutschland

Die überschwänglichsten, unwirklichsten Lobeshymnen habe ich im Ausland bekommen. Leider nicht in Bezug auf mich, sondern für unser ganzes Land. Ja, für unsere ach so deutschen Tugenden. Jetzt erneut im Urlaub in Portugal, trotz Angela Merkels unbarmherziger Sparpolitik während der Eurokrise. Aber auch in Washington, als ich dort als DW-Korrespondent arbeitete: Ihr Deutschen seid ja so pünktlich. Ihr seid zuverlässig. Ihr vertragt euch mit der Umwelt, seid weltoffen, fleißig, sparsam, seid zuverlässig und könnt gut wirtschaften. Außerdem sei die deutsche Verwaltung ein Ausbund an Effizienz und Bürgerfreundlichkeit.

Berlin ist weltoffen, aber deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit und Sparsamkeit sind hier nicht so populärBild: Picture Alliance/dpa/J. Carstensen

Häh? Sind das wirklich wir? Es war einmal … Vielleicht ein Märchen aus uralten Zeiten? Aber heute, in Zeiten von Bundeswehrflugzeugen, die nicht richtig funktionieren oder Umweltskandalen wie "Dieselgate"? Fakt ist: (Fast) alle lieben uns Deutsche. Aber wir wissen es besser, oder? Beschleichen Sie auch Zweifel, ob es dasselbe Deutschland ist, worüber wir sprechen. Ok, in Gegenden wie dem Münsterland oder im bayerischen Allgäu mag es um die deutschen Tugenden ja noch leidlich bestellt sein.

Aber besonders krass fällt der Unterschied zwischen Auslands-Wunschdenken und Wirklichkeit auf, wenn man in Berlin lebt. Wie stöhnte die renommierte Journalistin Ursula Weidenfeld jüngst im Berliner Tagesspiegel: "Berlins Behörden bringen es nicht fertig, einen Flughafen bauen zu lassen … Sie sind außerstande, ihren Bürgern einen Termin zum Anmelden einer Wohnung oder zum Heiraten zu geben. Jungendämter erklären sich selbst nur als bedingt einsatzbereit."

Von wegen effiziente Bürokratie: In Berlin muß man sich nicht nur zum Heiraten anstellenBild: picture alliance/dpa/G. Fischer

Berlin, ick liebe dir! Aber nicht dafür! Ich habe das in Berlin 24/7 noch freundlich "Verwaltungsversagen" genannt. Schärfere Zungen sprechen von Staatsversagen. Tja, und das ausgerechnet am Geburtsort des preußischen Beamtentums.

Deutsche Tugenden in Berlin?

Sie wollen immer noch nicht von ihrem Glauben an die deutschen Tugenden lassen? Ich verspreche Ihnen: Spätestens in Berlin werden sie ihn verlieren. Machen wir die Probe: Der Deutsche sei strebsam und könne gut wirtschaften, heißt es im Ausland. Vielleicht gilt das ja für die schwäbische Hausfrau. Aber nicht für die Berliner (Über-)Lebenskünstler. Die haben wenig auf dem Konto, ernähren sich von staatlichen Zuwendungen.

Wo ist der Flughafen geblieben? Der BER soll jetzt 2020 eröffnen. Das ist bereits der siebte EröffnungsterminBild: Getty Images/AFP/O. Andersen

Oder von Luft, Liebe und Drogendunst. Kein Wunder, dass Berlin als einzige Hauptstadt in EU-Europa die Wirtschafskraft des gesamten Landes herunterzieht. Rechnete man Berlin und seine Bewohner heraus, würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner um 0,2 Prozent hochschnellen, fand das Institut der Deutschen Wirtschaft heraus.

Noch immer nicht überzeugt? Erfreuen wir uns an der ach so deutschen Zuverlässigkeit: Gerade komme ich von meiner DHL-Poststation wieder. Die Dame vor mir will mit einem 50 EUR-Schein zahlen. Die Angestellte - die schwer gesenkten Augenlieder signalisieren bereits den Mittagsschlaf-Modus - reagiert fast schon beleidigt. Kein Wechselgeld. Ich rate der Dame vor mir zur Zahlung mit Kreditkarte. "Geht nicht", raunzt mich die Angestellte an und erwacht aus dem Halbschlaf. "Kartengerät kaputt". Soweit die Berliner Version deutscher Zuverlässigkeit.  Das einzige, worauf man sich verlassen kann, ist, dass man sich auf nichts verlassen kann. 

Disziplin, Pünktlichkeit und andere Tugenden: In Berlin sind sie noch nicht angekommenBild: Colourbox/Y. Iluhin

Perfektion ist langweilig    

Um den Anbetern deutscher Tugenden im Ausland vor Berlin-Reisen den Kulturschock zu ersparen, baut Berlins landeseigene Tourismusseite "Berlin.de" schon mal vor: "Perfektionisten stehen sich oft selber im Weg", heißt es dort mit warnendem Unterton.

"Der ewige Drang zur Spitzenleistung kann sogar krank machen." Ach wie cool! Wirklich? Den Beleg für ihre steile medizinische These bleiben die Tourismusvermarkter schuldig.

Hauptsache Berlin wäre damit mal wieder Trendsetter. Immerhin kann man sich da auf allercoolste Referenzen berufen, nämlich den aktuellen Claim des Modebrands "Diesel": "Go with the flaw - Perfection is boring". Oder sagen wir es in eigenen Worten: Macht ruhig Fehler - Perfektion ist total überbewertet!

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