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Politik

Abiy Ahmed und der ethnische Nationalismus

Kommentarbild Ludger Schadomsky
Ludger Schadomsky
23. November 2019

Droht Äthiopien die "Balkanisierung"? Immer mehr Volksgruppen in dem 109-Millionen-Einwohner-Land streben nach Autonomie. Ludger Schadomsky fragt sich: Kann Premier Abiy Ahmed das Land auf Dauer zusammenhalten?

Lange Schlangen von Wählern beim Sidama-Referendum in ÄthiopienBild: Getty Images/AFP/M. Tewelde

Das Ergebnis ist keine wirkliche Überraschung. Der weitaus größte Teil der 2,3 Millionen Stimmberechtigten hat an 1700 Wahlstationen sehr friedlich für die Autonomie des Volkes der Sidama, und damit für die Errichtung eines zehnten Bundesstaates gestimmt.

Damit werden die etwa drei Millionen Sidama in Zukunft ein gewichtiges Wörtchen mitreden bei Themen wie Steuern, Bildung, Sicherheit und Gesetzgebung. Vor allem aber werden sie einen Dominoeffekt lostreten: Bereits jetzt haben mehr als zehn weitere Volksgruppen angekündigt, den Sidama in Kürze auf dem Weg in die Selbstbestimmung zu folgen, wie es Äthiopiens Verfassung den mehr als 80 Volksgruppen erlaubt.

Aus EPRDF wird EPP

Das Referendum ist freilich nur eines von gleich zwei historischen Ereignissen, die in diesen Tagen die Zukunft von Afrikas Hoffnungsträger prägen. Am vergangenen Wochenende schlossen sich die Mitglieder der seit 1991 regierenden Vier-Parteien-Koalition "Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker" (EPRDF) unter dem neuen Namen "Ethiopian Prosperity Party" zusammen: Aus der heterogenen (Zweck-)Koalition wird nun eine nationale "Partei".

Premier Abiy Ahmed (rechts) und sein Stellvertreter Demeke Mekonnen bei der Abstimmung über die ParteienfusionBild: EPRDF

Ob die neue EPP in der Lage sein wird, 109 Millionen Äthiopiern den Wohlstand zu bringen den der Name verspricht, bleibt abzuwarten. Zweifellos aber markiert die vom jungen Reformpremier Abiy Ahmed im Eiltempo vorangetriebene Fusion eine Zeitenwende: Die über ein Vierteljahrhundert propagierte Ideologie der "Revolutionären Demokratie", die in ihrer albanisch-marxistischen Ausprägung ein oft skurriles Relikt aus den Endzeiten des Kalten Krieges war, wird auf dem Schrottplatz der Geschichte entsorgt. Es folgt das jüngst von Abiy in Millionenauflage gedruckte und für umgerechnet neun Euro am Kiosk erhältliche "Medemer", wörtlich "Synergie" - eine politische, wirtschaftliche und soziale Roadmap für das Äthiopien von morgen.

Droht eine Balkanisierung?

Und so laufen am Ende dieser Woche zwei nur scheinbar gegenläufige Entwicklungen zusammen: Während die Zentrifugalkräfte in Form an den Rändern des föderalen Bundesstaates zerren, versucht der Reformpremier in der Hauptstadt, das delikate, über viele Jahrhunderte mühsam austarierte Kräfteverhältnisse im Vielvölkerstaat neu zu justieren - mit völlig ungewissem Ausgang. Schon macht das Wort von der "Balkanisierung" des 109-Millionen-Landes die Runde.

Ludger Schadomsky leitet die Amharische Redaktion

Für Äthiopien ist dies der Lackmustest für die mit Sorge erwartete Wahl im Mai 2020, wenn sich Abiy an der Urne Rückhalt für seinen ambitionierten Reformkurs sichern möchte. Angesichts der hässlichen Fratze des Ethno-Nationalismus, die sich in den vergangenen Wochen immer wieder zeigte und allein an einem Wochenende etwa 80 Menschenleben forderte, schwant Beobachtern Schlimmes. Während Abiy "Synergie" predigt, appellieren seine Widersacher an niedere, ethno-nationalistische Partikularinteressen.

Signal an Rest-Afrika

Über das Land hinaus ist die Entwicklung übrigens für den gesamten Kontinent von Bedeutung. In Äthiopien, wo die Afrikanische Union (AU) ihren Sitz hat, wird in den kommenden Monaten mühsam verhandelt, ob Ethno-Zentrismus und Kleinstaaterei, oder aber die von der AU betriebene kontinentale Einheit das Maß aller Dinge sind. Auch hier gilt: Ausgang ungewiss.