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Glaube

Abschied von der Volkskirche

28. Juni 2020

2019 traten so viele Christen aus der Kirche aus wie nie in den vergangenen 25 Jahren. Doch dieses Schrumpfen der beiden großen Kirchen bedeutet nicht, dass Deutschland areligiös wird, meint Christoph Strack.

Immer weniger Menschen besuchen die Sonntagsgottesdienste in evangelischen und katholischen KirchenBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Den Trend gibt es seit Jahren, doch die aktuellen Zahlen sind besonders deutlich: Beide großen Kirchen in Deutschland melden für das Jahr 2019 einen kräftigen Anstieg der Kirchenaustritte. Und anders als üblich liegen die Katholiken dabei noch vor den Protestanten. Binnen zwölf Monaten verabschiedeten sich mehr als 540.000 Christen von ihrer Kirche. Noch höhere Zahlen gab es allein in den frühen 1990er-Jahren.

Nun gehören mit 43,3 Millionen noch knapp mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen einer der beiden großen Kirchen an. Vor zehn Jahren waren es noch rund fünf Millionen mehr. Denn neben den Kirchenaustritten verlieren die Kirchen auch, weil den Sterbefällen nur in weit geringerer Zahl Taufen gegenüberstehen. Fünf Millionen - dieser Verlust entspricht der Einwohnerschaft von Berlin und München, der größten und der drittgrößten deutschen Stadt.

Die Abkehr von der Kirche als behördlicher Akt

Auf katholischer Seite ist die Statistik bereits etwas exakter erfasst. Demnach stieg die Zahl derer, die ihrer Kirche den Rücken kehrten, 2019 gegenüber 2018 noch einmal um 26,2 Prozent. Besonders drastisch ist der Trend in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wo es stolze und traditionsreiche Bistümer wie Münster, Osnabrück, Paderborn, Trier und Köln trifft.

DW-Religionsexperte Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

Konservative Kräfte, seien es deutsche Geistliche im Vatikan oder US-Medien, zeigen gerne mit den Fingern auf die ach so liberale katholische Kirche in Deutschland und ihre statistisch sauber belegten Zahlen beim Kirchenaustritt. Das ist wohlfeil. Denn die Distanzierung von der Kirche in Deutschland fällt einfach nur besonders auf, weil der Kirchenaustritt hier ein ordentlicher Vorgang bei einer Behörde ist. In anderen europäischen Ländern merkt man die Distanz höchstens beim geringen Kirchenbesuch. Die überkommene Bindung an die Kirchen verdunstet auch dort.

Für Deutschland haben die jüngsten Zahlen jedenfalls eine solche Wucht, dass man kaum mehr von "Volkskirche" sprechen kann. Man mag Gründe für diese Wucht nennen. Da ist das Dauer-Thema Missbrauch, das - bei Katholiken und Protestanten - eben nicht beendet ist. Oder auf katholischer Seite die Ausgrenzung von Frauen (die man dort kirchlicherseits tapfer natürlich nicht Ausgrenzung nennt, sondern Festhalten an Geboten und Tradition).

Welche Folgen hat Corona?

Die Corona-Pandemie wird diesen Trend zur Schrumpfung verstärken. Noch sind die Folgen der verordneten Beschränkungen auf das kirchliche Leben gar nicht abzusehen, aber ein weiterer Schub zur Individualisierung von Religion liegt nahe. Und kaum ein Bischof rief den Getauften vor Ostern, diesem wichtigsten Fest der Christenheit, einfach mal zu: "Ihr selbst seid Kirche, jeder von Euch! Feiert in der Familie, feiert im kleinen Kreis!"

Dabei wäre Seelsorge das Gebot der Stunde. Die Sorge um die Seelen. In Corona-Zeiten, in der Angst und Einsamkeit dieser Tage. Seelsorge meint da gar nicht das dröhnend laute Wort. Sie ist aber mehr als der ordnungsgemäße Vollzug von Gottesdiensten. Es geht um die Nähe zu den Menschen am Rande, den Gescheiterten, den Verzagten.

Kein Verlust von Religiosität im Land

Es wäre übrigens falsch, den Abschied von den "Volkskirchen" kurzerhand mit Verlust von Religiosität im Land gleichzusetzen. Es gibt zum Beispiel ein wachsendes Spektrum evangelischer Freikirchen: Hunderttausende Baptisten in agilen Gemeinden versammeln sich Sonntag für Sonntag zum Gottesdienst. Ebenso wie Hunderttauende, ja über eine Million orthodoxe Christen in Deutschland, Griechen und Russen, Serben und Kopten. Die jüdische Gemeinschaft und die muslimische Gemeinschaft sind recht stabil und kamen, so scheint es, bislang besser durch die Corona-Krise als die großen Kirchen. Darüber hinaus gibt es, um nur eine weitere Religion zu nennen, eine kaum überschaubare Zahl kleiner buddhistischer Gruppen im Land.

Egal ob Baptisten oder Buddhisten, Orthodoxe, Juden oder Muslime - sie haben weniger Verwaltung und Apparat, sie verfügen kaum über Bildungseinrichtungen, kaum für die Gesellschaft wichtige Impulsgeber im universitären Bereich oder in Akademien. Aber sie erfahren ihren Glauben in Gemeinden, die ihnen oftmals auch Netzwerk oder Familie sind. Ob die Großkirchen das hinbekommen?

Mangelnde Reflexion über Gott

Religion als Sinn-Angebot in Slums und Plattenbauten und Luxusvillen. Religion als politischer Machfaktor. Religion als Träger von Identifikation des Einzelnen, da doch alle nur von Universalisierung und globalen Playern reden und der Einzelne unter die Räder gerät. Die Gesellschaft in Deutschland, diesem reichen und seit 30 Jahren vereinten Land, diesem Land, zu dem aber auch Armut und Spaltung zählen, bräuchte die kritische Reflexion über das, was so viele Gott nennen.

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