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Obamas Drahtseilakt in Tallin

Michael Knigge / glh3. September 2014

Barack Obama nutzte seinen Zwischenstopp in Estland, um in drei Richtungen zu kommunizieren: in die USA, nach Moskau und nach Osteuropa. Seine vorsichtig gewählten Worte hätten dabei auch von Angela Merkel kommen können.

Barack Obama in Estland. (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/R. Velli

Die Gründe für Obamas Kurzbesuch in Tallinn vor Beginn des NATO-Gipfels in Wales sind schnell gefunden. Einer der drängendsten ist die Ukraine-Krise, die die baltischen NATO-Partner derzeit verständlicherweise stark verunsichert. Estland ist dabei besonders beunruhigt: Nicht nur wegen seiner Grenze zu Russland, sondern auch aufgrund seiner beträchtlichen russischsprechenden Minderheit.

Hinzu kommt, dass Estland aus Washingtons Sicht als gutes Vorbild für die meisten anderen europäischen NATO-Partner dienen kann. Es ist - neben Griechenland und Großbritannien - eines der wenigen Länder, das die vorgeschriebenen zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgibt. Und schließlich hat sich Estland unter der Führung von Präsident Toomas Hendrik Ilves als standhafter Partner der USA gezeigt, vor allem in Sachen Cybersicherheit.

Vor diesem Hintergrund war Obamas erstes Ziel, die Nerven der Esten und der anderen baltischen Staaten zu beruhigen. Er versicherte den osteuropäischen NATO-Mitgliedern angesichts eines immer aggressiver agierenden Russlands noch einmal, dass Washington an ihrer Seite stehen werde. Nicht nur die Esten hatten sich aus diesem Grund erhofft, Obama würde auch noch einmal auf den Artikel 5 des NATO-Vertrags eingehen. Der besagt, dass der Angriff eines NATO-Partners ein Angriff auf das gesamte Bündnis ist und somit eine gemeinsame Antwort provoziert.

DW-Reporter Michael KniggeBild: DW/P. Henriksen

In gewisser Hinsicht erfüllte Obama den Osteuropäern ihren Wunsch - und das auch noch in überzeugender Rhetorik: "Unzerbrechlich, felsenfest und ewig" nannte er das Washingtoner Sicherheitsversprechen an die Esten und versprach: "Ihr habt eure Unabhängigkeit schon einmal verloren. Mit der NATO wird euch das nie wieder passieren."

Unterschiedliche Signale

Doch wenn es jemanden gibt, der weiß, dass Taten mehr sagen als Worte, dann sind das die östlichen NATO-Partner. Sie forderten von der NATO eine sichtbare Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage in der eigenen Nachbarschaft. Und die bekamen sie - sozusagen. Obama sagte ihnen zusätzliche Einheiten der US-Luftwaffe für Osteuropa zu. Außerdem versprach er, die NATO zu drängen, so lange wie möglich präsent zu bleiben und die Reaktionstruppe der Allianz weiter auszubauen. Doch er scheute sich davor, näher auf die Forderungen nach permanenten Stützpunkten in der Region und der Auflösung der NATO-Russland-Gründungsakte einzugehen.

Sein erstes Zielpublikum - die östlichen NATO-Partner - konnte er leicht mit Washingtons Zugeständnis beeindrucken, einem wiederaufstrebendem Russland wenn nötig entgegenzutreten. Schwieriger war es, die selbe Botschaft seiner zweiten Zuhörerschaft zu senden: dem Kreml. Obama versuchte es mit Zuckerbrot und Peitsche. Er warnte Russland: Die Aggressionen in der Ukraine seien kontraproduktiv. Er sagte jedoch auch, dass der Westen ein starkes Russland begrüßen würde - wenn es sich denn aus der Ukraine zurückziehen werde. Vorsichtig wog er seine Äußerungen gegenüber Russland ab und vermied zündelnde Rhetorik. So sorgte Obama nicht für den Aufruhr, den sich viele Führer der östlichen Länder erhofft hatten.

Obamas Merkel-Stil

Die dritte Gruppe, die sich Obamas Äußerung ganz genau anhörte, sind konservative US-amerikanische Abgeordnete wie John McCain. Sie werfen Obama seit langem vor, in der Ukraine-Krise zu zögern und nicht entschieden genug gegen Putin vorzugehen. Die US-amerikanische Öffentlichkeit teilt diese Ansicht jedoch nicht. Sie sieht im Russland-Ukraine-Konflikt keine massive Bedrohung für die USA. In einer aktuellen Umfrage bewerteten die Amerikaner vor allem den islamistischen Terror, Irans Atomprogramm und sogar Nordkoreas Atomprogramm als gefährlicher für die USA als die Ereignisse in Osteuropa. Darum sind eine direkte Konfrontation mit Russland oder ein stärkeres Engagement der USA in der Region keine Optionen.

Seinen US-amerikanischen Zuhörern - und auch den anderen - bot Obamas Tallinn-Besuch ein bisschen von allem: Die Versicherung, dass Washingtons Gewicht noch zählt in der Welt, harte Worte für Moskau, aber keine substanziellen militärischen Zugeständnisse, die die USA in einen weiteren - wie Obama es ausdrückt - "regionalen Konflikt" ziehen könnten. Mit anderen Worten: Obama ging kein Risiko ein. Aus deutscher Sicht betrachtet hätten Obamas wohlgewählte Äußerungen - abgesehen von ein paar melodramatischen Momenten - auch von der deutschen Kanzelerin Angela Merkel stammen können.

Seine zahlreichen Kritiker werden seine Tallin-Versprechen nun sicherlich als lauwarm bezeichnen und Obama vorwerfen, er wolle auf Nummer sicher gehen. Doch angesichts unbeständigen Situation in der Ukraine, der komplexen NATO-Entscheidungsprozesse und einer nüchternen Einschätzung der Stimmung in der Heimat sowie der globalen Herausforderungen war das wohl genau das, was der Arzt verschrieben hatte.

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