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Anschlag auf die Türkei

Daniel Heinrich Kommentarbild App PROVISORISCH
Daniel Heinrich
11. Oktober 2015

Der grausame Anschlag von Ankara mit seinen fast 100 Opfern geschah in einem von Machtinteressen zerfressenen System. Und dessen Opfer sind die Bürger der Türkei, meint Daniel Heinrich.

Bild: picture-alliance/dpa/O. Orsal

Kaum zu ertragen sind die grausamen Bilder, die uns aus der Türkei erreichen. Die Videos der Anschläge in Ankara sind frei verfügbar, sie zirkulieren über Twitter, Facebook. Den globalen sozialen Medien "sei Dank" sehen viele Menschen die brutalen Einzelheiten der Attentate, die die türkische Hauptstadt erschüttert haben. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist garantiert - und trägt nur noch weiter dazu bei, die Folgewirkungen des Anschlags zu verstärken. Es ist Wahl-Kampf in der Türkei. Und leider wird dieser Begriff in diesem Land zu häufig auf schreckliche Weise falsch verstanden.

Der Anschlag ist eine einzige Schande

Dieser Anschlag ist die schlimmste Form von "ayıp". "Ayıp" ist Türkisch und bedeutet wörtlich übersetzt "Schande". Dieser Anschlag ist eine einzige Schande. Für die Attentäter, für die Hintermänner, für diejenigen, die die grausame Tat am Ende insgeheim gutheißen mögen - und für alle Politiker, die versuchen daraus Kapital zu schlagen. Denn die gibt es.

Letzten Endes ist er eine Schande für die gesamte politische Kultur der Türkei. Denn dieser Anschlag, so unfassbar er auch ist, ist eine Folge ebendieser vergifteten politischen Kultur, in der aus liberal-demokratischen Gesichtspunkten schon lange einiges aus dem Ruder gelaufen ist.

Da missachtet der Staatspräsident, Tayyip Erdogan, in schöner Regelmäßigkeit die Verfassung, indem er selbst in den Wahlkampf eingreift. Da wird ernsthaft darüber diskutiert, den Anführer der pro-kurdischen Partei, Selahattin Demirtas, unter fadenscheinigen Gründen von den Staatsanwälten der Strafjustiz verfolgen zu lassen. Allein: Zum Freiheitskämpfer taugt Demirtas nicht, schon aufgrund seiner Nähe zu Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Anführer der verbotenen Arbeiterpartei PKK.

Die türkische Demokratie beerdigt sich selbst

Der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP, fällt schon lange nichts mehr ein, als Tayyip Erdogan in schöner Regelmäßigkeit als Diktator zu beschimpfen. Vom Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (AKP) hört man gar nichts. Und die Nationalisten von der MHP fahren seit Jahr und Tag auf dem "die-Türkei-wird-von-fremden-Mächten-bedroht"-Ticket.

Inhaltliche Auseinandersetzung?

Nein.

Damit es niemand falsch versteht: Nichts kann so schlimm sein wie der Bombentod von fast 100 Menschen, politische Skrupellosigkeit nicht und Machtmissbrauch auch nicht. Aber die Trauer über die Toten von heute sollte auch eine Trauer sein darüber, dass dieser Anschlag die inhaltsleere, dogmatisierende "Wir-gegen-die-Haltung" innerhalb der Lager wohl nur noch verstärken - und so von den strukturellen Problemen des Landes noch weiter ablenken wird.

DW-Reporter Daniel Heinrich ist auf Reisen - deswegen haben wir nur dieses Bild von ihm, das seine große Trauer nicht zum Ausdruck bringt. Was der Türkei aus seiner Sicht helfen würde, das will er ein andermal aufschreiben - der heutige Tag war schlimm genug

Die Wirtschaft lahmt, der Kurdenkonflikt tobt und mit zwei Millionen syrischen Flüchtlingen hat die Türkei zwar die leidenden Nachbarn aus der größten Not befreit, Integrationsleistungen oder Eingliederungsprojekte fehlen jedoch völlig.

Das größte nicht-menschliche Opfer dieses Anschlags, generell dieses gesamten Wahlkampfes, wird auch weiterhin in keiner Statistik auftauchen. Es ist abstrakter, nicht sichtbar, schwerer zu fassen als Menschenleben. Die türkische Demokratie beerdigt sich gerade selber - und gibt sich größte Mühe, diejenigen mitzureißen, die im Land zivilgesellschaftliches Engagement hochhalten.

Nach dem Anschlag: Sofort wieder Schuldzuweisungen

Die türkische Gesellschaft, seit Jahrzehnten polarisiert, wird durch diesen Anschlag und diesen Wahlkampf nur noch weiter auseinandergerissen werden. Anstatt den wirklichen Hintergründen der Attentate auf den Grund zu gehen, werden Schuldzuweisungen erhoben und politische Gegner diffamiert.

Aber wissen Sie was? Eigentlich ist es egal, wer den Anschlag verübt hat: der "Islamische Staat", die PKK, radikale Kommunisten, die Nationalisten oder sonst irgendeine Kraft. Alle Analysen, Kommentare, Berichte, Expertenkommissionen helfen den Betroffenen nichts, den Müttern, den Vätern, den Brüdern, den Schwestern, den Onkeln, den Tanten, den Cousins und den Freunden der Opfer. Sie trauern. Sie trauern um ihre Liebsten, die einem Akt mörderischer Gewalt zu Opfern gefallen sind.

Alle, die auch nur im entferntesten von dem Anschlag wussten, daran beteiligt waren, ihn womöglich gutheißen oder versuchen Kapital daraus zu schlagen, sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Emsige Strafverfolger hat die Türkei ja.

Die Bürger sind Opfer eines verderbten Systems

Lassen Sie mich schon an dieser Stelle allen Kommentaren vorgreifen, dieser Text richte sich gegen "die" Türkei, gegen "das türkische Volk". Nein, das tut er nicht.

Er richtet sich gegen ein korrumpiertes, von Machtinteressen zerfressenes System, das sich auf dem Rücken seiner offenen, großartigen, warmherzigen Bürger seine eigenen Pfründe zu sichern versucht. Die Bürger der Türkei werden zu Opfern einer sinnlos polarisierten politischen Kultur, in der es nicht um Religion, Islam oder PKK geht, sondern einzig und allein um Macht. Und deren Vertretern, egal aus welcher politischen Richtung sie auch kommen mögen, viele Mittel recht sind.

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