Kommentar: Aufbruch zu neuen Ufern im Irak?
16. Dezember 2005Die irakischen Parlamentswahlen könnten sich als ein Aufbruch zu neuen Ufern erweisen - wenngleich es sicher verfrüht wäre, im Wahlgang allein den Beginn einer neuen Epoche zu sehen. Aber es hat sich an diesem 15. Dezember doch gezeigt, dass die Hoffnung der Iraker auf Ruhe und Sicherheit, auf politische Selbstbestimmung wie auf ein Ende von Besatzung und Terror ungebrochen ist. Und dass die Menschen im Zweistromland zur Verwirklichung dieser Hoffnung auch bereit sind, Risiken einzugehen und Differenzen zu überwinden.
Meinungsumschwung der Schiiten
So haben sich die Wähler - wie schon am 30. Januar bei den Wahlen zum Übergangsparlament - nicht durch Drohungen einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Die Wahlbeteiligung lag diesmal offenbar noch höher als Anfang des Jahres. Ganz besonders dürfte dazu der Meinungsumschwung unter den Sunniten beigetragen haben: Die knapp 20 Prozent der Bevölkerung ausmachende Minderheit hatte sich im Januar noch einschüchtern lassen oder war der Wahl aus Protest dagegen ferngeblieben.
Politischer Aufruf
Diesmal sah das anders aus: Die Sunniten hatten eingesehen, dass sie sich durch Wahlabstinenz nur selbst ausschließen. Und sowohl ihre geistlichen als auch weltlichen Führer riefen zur Beteiligung an der Wahl auf. Es war ein politischer, nicht ein religiöser Aufruf - und viele sind ihm gefolgt: Religiöse wie Nichtreligiöse. Ein erster Schritt war getan. In die Richtung, in die der Irak sich entwickeln MUSS, wenn er wieder werden will, was er so lange war: Ein Land, in dem die religiösen Unterschiede von zweitrangiger Bedeutung waren.
Neue Allianzen
Der Weg in diese Richtung wird wahrscheinlich erleichtert, weil es auch auf schiitischer Seite einige Aufweichungserscheinungen gibt: Mit dem religiös motivierten Hauptfeld konkurrieren inzwischen auch weltlich orientierte schiitische Gruppen und Parteien, für die das Land im Vordergrund steht - und nicht die Religion. Diese säkularen Gruppen werden früher oder später feststellen, dass sie in ähnlich orientierten Gruppen unter den Sunniten und erst recht den Kurden Verbündete haben. Vielleicht geschieht dies sogar schon recht bald: Wenn nämlich nach Auszählung der Stimmen Koalitionen gebildet werden müssen. Einer allein wird nämlich auch im Irak nicht regieren können. Selbst nicht die so übermächtige schiitische Allianz.
Hier liegt eine Chance für die Säkularen: Man braucht sie; sie können mäßigenden Einfluss ausüben, vielleicht sogar durch enge Zusammenarbeit über konfessionelle Grenzen hinweg zur entscheidenden politischen Kraft werden. Wahrscheinlich werden solche positiven Entwicklungen im Weißen Haus wieder einmal dazu herhalten müssen, den Erfolg der amerikanischen Irak-Politik hervorzuheben. Doch das ist Unsinn: Wenn sie etwas dokumentieren, dann den ungebrochenen Willen der Iraker, sich endlich selbst zu nehmen, was sie noch nie erlebt haben: Freiheit und Demokratie.