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Politik

Getrieben von seinen Obsessionen

Brasilien Philipp Lichterbeck | Post aus Rio
Philipp Lichterbeck
28. März 2019

Brasiliens neuer Präsident Bolsonaro will den Militärputsch von 1964 feiern - ganz unbekümmert davon, ob dieser Schritt das Land weiter spaltet. Das stört nun sogar die Militärs, meint Philipp Lichterbeck.

Bild: Reuters/S. Moraes

Carmen A. wurde 1974 in São Paulo verhaftet, sie war damals 28 Jahre alt. Die Militärs brachten sie in ein Foltergefängnis. Dort schlossen sie ihre rechte Brust an ein Kabel an und jagten Strom hindurch. Sie wollten erfahren, wo sich Carmens Mann aufhielt und drohten damit, auch ihren einjährigen Sohn zu misshandeln. Die Peiniger nannten sich Doktor Romero und Kapitän Ubirajara. Als Carmen mir vor wenigen Jahren ihre Geschichte erzählte, waren beide Männer auf freiem Fuß. Sie mussten genauso wenig für ihre Verbrechen büßen, wie all die anderen Folterer und Mörder in Uniform, die zwischen 1964 und 1985 behaupteten, Brasilien vor einer kommunistischen Bedrohung beschützen zu müssen.

Keine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte

Für Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sind Männer wie Romero und Ubirajara keine Kriminellen, sondern Helden. Es spricht Bände über den pathologischen Charakter Bolsonaros, dass sein Lieblingsbuch von einem Folterknecht geschrieben wurde, der zum Beispiel Frauen Ratten in die Vagina einführen ließ.

Diese und andere Verbrechen sind nie ins kollektive Bewusstsein der Brasilianer gedrungen. Das hat vor allem mit dem Amnestiegesetz zu tun, das die Militärs 1979 auch für sich selbst beschlossen. So erfuhren die Brasilianer nur wenig über die dunklen Seiten des Regimes. Konservative behaupten bis heute, dass damals Recht und Ordnung geherrscht hätten.

Die fehlende Auseinandersetzung mit der Geschichte ist einer der Nährböden, auf dem Jair Bolsonaro nun den 31. März zum Feiertag in den Militärkasernen erklären kann. In anderen Ländern Lateinamerikas, die unter Militärregimes litten, wäre ähnliches heute undenkbar. Im Brasilien Jair Bolsonaros geht es.

"Demokratische Intervention" statt Militärputsch

Am 31. März 1964 putschte das brasilianische Militär gegen den verfassungsmäßigen Präsidenten João Goulart, dem es Kommunismus vorwarf, unter anderem weil er eine Bodenreform anstrebte. Millionen konservativer Brasilianer unterstützten den Putsch. Ebenso wie die wirtschaftliche Elite, die großen Medienhäuser, die katholische Kirche sowie die US-Regierung. Amerikanische Kriegsschiffe lagen damals vor den Küsten Brasiliens und sicherten den Umsturz ab. Es war der Beginn der "bleiernen Jahre".

DW-Autor Philipp Lichterbeck lebt in RioBild: Privat

Für Jair Bolsonaro war es hingegen der Anfang einer glorreichen Epoche. "Es gab 1964 keinen Militärputsch", hat er nun über seinen Sprecher ausrichten lassen. Es sei eine "demokratische Intervention" gewesen. Es ist der Versuch Bolsonaros die Geschichte umzuschreiben. Und es erinnert an George Orwells Roman 1984, in dem das "Ministerium für Wahrheit" fortlaufend damit beschäftigt ist, die Vergangenheit an die gerade herrschende Parteilinie anzupassen.

Brasiliens Präsident ist von zwei Dingen besessen: Die Homosexualität anderer Menschen, die er immer wieder und völlig unnötig zum Thema machen muss. Und die Vergangenheit, die ihn - wie alle Reaktionäre - viel stärker beschäftigt als die Zukunft. Warum er sich viel mehr für Homosexuelle und eine Militärdiktatur interessiert, die vor 35 Jahren endete, als beispielsweise für ein besseres Bildungssystem, die Bekämpfung der Armut oder die anstehende Rentenreform, ist ein Fall für die Psychologen.

Fakt ist: Dieser Präsident lähmt Brasilien erneut. Er führt das Land nicht voran, sondern nimmt es zur Geisel seiner eigenen Obsessionen. Er hat kein Interesse, die Menschen zu einen. Er spaltet. Er will keinen Frieden, sondern Konflikt. Es ist sein Treibstoff. Das hat er mit Donald Trump gemein. Auch der ist ein engherziger Narzisst.

Opferzahlen bis heute unklar

Rund 2000 Menschen wurden während Brasiliens Militärdiktatur gefoltert, so wie Carmen A.. Über die Zahl der Ermordeten gibt es bis heute Unklarheit. Ging man lange von 357 Toten aus, vorwiegend linke Oppositionelle und Guerilleros, zählt man seit 2012 rund 600 weitere Opfer hinzu: Bauern, Gewerkschafter, Dorfpfarrer, Umweltschützer. Und eine neue Rechnung inkludiert nun auch tausende getötete Indios, die Infrastrukturprojekten im Wege standen - etwa Staudammbauten im Amazonas.

Wegen dieser im Vergleich zu den Diktaturen in Chile und Argentinien niedrigen Opferzahlen wird Brasiliens Militärregime auch als "Diktatur light" bezeichnet. Aber gibt es das? Vom deutschen Philosophen Theodor W. Adorno stammt die Erkenntnis: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Genauso wenig gibt es für Opfer sanfte Diktaturen. Der Folterknecht Oberst Paulo Malhães war erschreckend offen, als er vor Brasiliens 2011 eingeführter Wahrheitskommission sagte: "Wir haben so viele umgebracht, wie nötig war."

Mehr als nur Geschichtsrevisionismus?

Die entscheidende Frage lautet: Steckt hinter der Weißwaschung dieser Männer mehr als nur Geschichtsrevisionismus? Ist es ein Projekt zur Legitimierung einer Politik, die Widerspruch nicht duldet und rücksichtslos ihre Projekte durchsetzt? Soll dieser 31. März also in die Zukunft weisen und beispielsweise die Zerstörung der Amazonaswaldes und die Vertreibung der Indigenen zugunsten wirtschaftlicher Interessen legitimieren? Oder das immer brutalere Vorgehen der Polizei in Brasiliens Favelas? Lautet die Antwort auf die schweren sozialen Probleme Brasiliens erneut: Unterdrückung?

Tatsächlich gibt es bei alldem einen dialektischen Widerspruch, mit dem selbst Bolsonaro nicht gerechnet haben dürfte. Brasiliens Militärs sind wenig begeistert davon, dass sie nun einen Putsch feiern sollen. Dass diese Anweisung zudem vom ehemaligen Hauptmann Bolsonaro kommt, der es über diesen niederen Offiziersrang nie hinaus brachte, dürfte zusätzlich für Verstimmung sorgen. Die Generäle, das zeigt sich immer offener, sind in der Mehrzahl nicht daran interessiert, die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft weiter zu vertiefen. Das unterscheidet sie von Präsident Bolsonaro, der von seinen Obsessionen getrieben wird und lieber Radau macht.

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