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Politik

Die Erschütterung

22. März 2020

Die steigenden Opferzahlen der Corona-Pandemie erschüttern Europa so stark wie vor 265 Jahren das Erdbeben von Lissabon. Die Welt wird an den Tod erinnert und steht damit vor Grundfragen, meint Christoph Strack.

Bild: Imago/S. Agazzi

Die Bilder aus Norditalien sind fürchterlich, sie muten unheimlich an: Zu nächtlicher Stunde bringen Militärfahrzeuge die Särge mit Opfern der Corona-Epidemie weg aus Bergamo, dem Ground Zero des Schreckens dieser Tage. Zum Teil fahren sie hunderte Kilometer in andere Städte. Denn das örtliche Krematorium schafft es nicht mehr, die Toten einzuäschern. Selbst der Tod überfordert die Region.

Tag für Tag kommen aus Italien neue, entsetzliche Opfer-Zahlen: 427, 627, 793. Tag für Tag hunderte untergegangene Leben. Es sterben ganze Altenheime leer, halbe Dörfer in Voralpentälern. Es sterben Ärzte und Pflegerinnen, auch dutzende Priester, die an Betten ausharrten. Das Sterben wütet im sommerlichen Sehnsuchtsland vieler Europäer. Und diese ahnen oder fürchten, dass das Sterben weiter zieht. Was in Italien passiert, wirkt wie ein Menetekel.

Die Frage nach dem "Warum?"

Italien im Kampf, Europa und die Welt im Schock und in Angst. Stimmungsbilder in den Medien und dem eigenen Erleben, die man vor ein, zwei Wochen schier für unmöglich gehalten hätte. Es gibt wenige historische Vergleiche, die einem in den Sinn kommen: Da ist der Tsunami in Südostasien von 2004 mit mindestens 230.000 Toten.

DW-Redakteur Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

Vielleicht - wegen der Unheimlichkeit des Geschehens in seiner Zeit - drängt sich stärker noch auf das Erdbeben von Lissabon von 1755 mit 60.000 Opfern. Gewiss, die Welt zog weiter damals auf ihrem Weg in die Moderne. Aber der Fortschrittsglaube war dahin, der Optimismus jener Zeit wich Verzweiflung. Das "Warum?" ließ viele nicht mehr los. Für viele historische Reflexionen, für Philosophen, Literaten, Theologen war Lissabon ein Epochenbruch.

Falls man dieses Jahr 1755 in den Blick nimmt: Wir werden uns heute unserer selbst vergewissern müssen, unserer Prinzipien und bisheriger Selbstverständlichkeiten, unserer Solidaritäten, unserer Grenzen. Und wer jetzt angesichts des Grauens von Strafe Gottes spricht, fällt zurück in überkommenes, ja, in Fundamentalismus. 

Der Tod ist da

Die Militärlaster der italienischen Nacht als Bild, das einen nicht loslässt. Da ist jeder entsetzt. Und es ist verständlich, dass italienische Ärzte oder deutsche Politiker das Ähnliche beschwören: #Bleibtzuhause! Und #FlattenTheCurve! Geht einander aus dem Weg! Friert Euren Alltag ein! Verzögert die Ansteckung! Es sind die Bilder und Szenen, die gemahnen: Nehmt jeden Appell ernst. Das ist alles richtig. Und es ist das wesentlich Richtige, so lange die Medizin hilflos bleibt. 

Aber dieses Reden wendet schnell den Blick vom Drama selber (das ja - niemand mag es ausschließen - in Spanien oder irgendeinem anderen europäischen Land, im Iran oder auch den USA, sich ähnlich gestalten kann). Der Tod ist da. Der Tod, den wir im Westen verdrängt haben in Zeiten des Unbegrenzten, der goldenen Fassaden, immer neuer Rekorde.

Die Erinnerung wird uns fordern

Die Militärlaster voller Särge stehen dafür, dass da ein Land im Krieg scheint gegen einen unsichtbaren Feind. Und die Opfer sind vielfach die Alten und die Geschwächten. Wer italienisches Leben kennt, erinnert freundliche, offene Gesichter, aus denen Lebensfreude spricht und Geschichte, manchmal auch leidvolle Geschichte. Noch das kleinste Dorf hat seinen Friedhof und feiert, religiös und familiär, den Tod und die Erinnerung. Nun wird einsam gestorben und einsam bestattet, gerade noch mit Namen. Die Erinnerung - sollte es einmal vorbei sein mit Corona - wird das Land fordern und im Schmerz vielleicht auch überfordern. Und je nach Verlauf wird diese Erinnerung ganz Europa fordern.

In der Kirche von Serina, nahe Bergamo, am SamstagBild: picture-alliance/AP/C. Furlan

Vierhundertsiebenundzwanzig, sechshundertsiebenundzwanzig, siebenhundertdreiundneunzig Leben. Jede Zahl ein relevantes Leben. Es wird, in diversen Ländern, so weitergehen - über Wochen. Wir werden es aushalten müssen alle miteinander und uns alle miteinander schützen müssen. Wir haben neu zu lernen den Wert des Lebens. Wenn in diesen Tagen - mal medizinisch, mal ökonomisch - von Systemrelevanz die Rede ist, ahnen wir das schon. Die Pflegekraft, die Ärztin, der Bäcker, die Verkäuferin - systemrelevante Leben, deren Systeme nicht selten von den Jüngern des freien Marktes gefährdet worden sind. Wir sollten das in und nach der jetzigen Erschütterung der Systeme nicht vergessen.

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