Demokratie ist mehr als nur ein #Hashtag
Noch hat der Brexit mein Leben nicht verändert. Aber ohne die EU hätte ich nicht einfach so in Großbritannien studieren können. In sozialen Netzwerken schimpfen meine Freunde jetzt über das Ergebnis des Referendums. Aber dass sie aus Solidarität zu Hunderten das gleiche Profilbild hochladen? Nein. So weit gehen sie dann doch nicht.
Nur bei zwei Bekannten habe ich das Bild einer europäischen Flagge gefunden: Einer der zwölf Sterne ist durch eine Träne ausgetauscht. Ansonsten beweint keiner symbolträchtig die EU. Dabei gibt es Petitionen, Initiativen und Hashtags, die gegen den Austritt der Briten mobilisieren, sogar ein zweites Referendum fordern.
Generationenkonflikt in Großbritannien
Die Jugend ist enttäuscht von der Generation ihrer Eltern und Großeltern. Die profitierten als erste vom europäischen Friedensprojekt, von der Reisefreiheit, den Bildungschancen. "Uns gönnt ihr diese Errungenschaften nicht" klagen junge Briten die Älteren an, weil diese überwiegend für den Austritt stimmten. "Selbst schuld", entgegen die, "wenn sich nur ein Drittel von euch Jungen zur Wahlurne schleppt."
In der Tat haben zwar drei Viertel der jungen Briten für den Verbleib in der EU gestimmt. Die Mehrheit der Unter-24-Jährigen hat aber überhaupt nicht gewählt. Die niedrige Wahlbeteiligung der Jungen ist in Europa jedoch kein Novum. Dabei können wir jungen bei politischen Themen im Netz doch so engagiert und innovativ sein. Als Griechenlands Schuldenkrise vor einem Jahr beinahe den Austritt aus der Eurozone forderte, organisierte ein junger Brite eine Spendenkampagne. Am Ende hatte er zwar nur ein Tausendstel des notwendigen Betrags aufgebracht - aber das waren stolze 1,9 Millionen Euro.
Warum können wir das gleiche Engagement nicht an einem Wahltag aufbringen? Das Referendum wäre anders ausgegangen, wenn jener junge Brite 1,9 Millionen Stimmen statt Euros für den Verbleib seines eigenen Landes in der EU gesammelt hätte. Ist die Wahlurne zu analog für eine Generation, die mit dem Internet großgeworden ist? Sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, demokratischen Entscheidungen ins Netz zu verlegen? Bloß nicht.
Das analoge Wählen entscheidet
Zu einem Wahllokal zu laufen oder per Briefwahl zu wählen ist zwar umständlicher, aber mit einem Stift in der Hand trifft man eine Entscheidung anders als mit einem Klick. Denn sind wir ehrlich: Egal wie alt - manchmal sitzt der Like-Daumen eben doch etwas zu locker. Die Zugkraft der sozialen Netzwerke haben auch längst Populisten für sich entdeckt. Nicht umsonst sind Hetze und Hasskommentare mittlerweile ein so großes Problem im Netz, dass deutsche Politiker sich extra mit dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg getroffen haben.
Natürlich hat auch die Politik ein Problem. Insbesondere die EU gilt nicht als besonders volksnah, sondern dient mit dem verordneten Krümmungsgrad von Gurken als Witzvorlage. Aber selbst eingefleischte EU-Verfechter wie Parlamentspräsident Martin Schulz erkennen das jetzt. Auf dem Gipfel in Brüssel in dieser Woche war von ihm und allen angereisten Staatschefs unisono zu hören: Die EU will sich ändern, sie muss für die Menschen da sein.
Um da mitzureden, können wir uns natürlich über das Internet mit Hashtags und Aufrufen Gehör verschaffen. Am stärksten zählt unsere Stimme aber immer noch in der Wahlkabine. Dieses Versäumnis der jungen Briten verändert jetzt das Leben von vielen von uns. Deshalb sollten wir als Europäer nicht vergessen, dass am Ende das Kreuzchen auf dem Stimmzettel entscheidet und nicht die vielen Likes für ein Profilbild.
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