Der IS ist noch lange nicht besiegt
Mehr als zwei Jahre lang haben die Menschen in Falludscha unter der Herrschaft einer religiös verbrämten Mörderbande leben müssen, die das Volk mit Enthauptungen und Massenerschießungen tyrannisiert. Zuletzt wurden sie von diesen Terroristen sogar als menschliche Schutzschilde missbraucht. Doch als der irakische Regierungschef Haider al-Abadi vor wenigen Tagen etwas voreilig die militärische "Befreiung" der Stadt vom sogenannten "Islamischen Staat" (IS) verkündete, brach unter den Anwohnern keineswegs Jubel aus.
Ein Grund könnte gewesen sein, dass in einigen Stadtteilen weiterhin Gefechte zwischen irakischer Armee und IS-Kämpfern stattfinden. Da wäre es selbstmörderisch, zum Feiern auf die Straßen zu gehen. Passiert ist allerdings etwas anderes: Zahlreiche Einwohner nahmen vor ihrer eigenen "Befreiung" Reißaus.
Flucht vor der eigenen "Befreiung"
Bis zu 80.000 Menschen sollen Falludscha seit Beginn der irakischen Militäroffensive am 23. Mai verlassen haben. 30.000 davon flüchteten laut Schätzungen norwegischer Beobachter sogar erst nach der offiziellen "Befreiung" Falludschas am vergangenen Freitag (17.6.). Unter katastrophalen hygienischen Zuständen warten diese Menschen jetzt in Zeltlagern außerhalb der Stadt auf ihr weiteres Schicksal, während Regierungschef Abadi mit der Millionen-Metropole Mossul bereits die nächste und letzte irakische IS-Bastion in Angriff nehmen will.
Immerhin eines ist positiv zu vermerken: Das "Kalifat" bröckelt - zumindest in seinem ursprünglichen Kerngebiet. Es scheint wahrscheinlich, dass der IS nach einigen Tagen oder Wochen weitgehend aus Falludscha herausgedrängt sein wird. Aus zwei weiteren irakischen Städten - Tikrit und Ramadi - ist er bereits vor Monaten vertrieben worden. Im benachbarten Syrien und sogar in Libyen stehen die Herrschaftsgebiete des IS ebenfalls militärisch unter Druck, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt und eine militärische Niederlage des IS dort noch in einiger Ferne scheint. Selbst ohne eigene Kontrolle über bestimmte Gebiete, Schmuggel- und Waffen-Nachschubrouten kann der IS noch lange in der Lage sein, Angst und Schrecken in Form von Terroranschlägen zu verbreiten - nicht nur in Nahost und Nordafrika, sondern auch in den USA und Europa.
Der militärische Kampf gegen den IS - insbesondere mit Bodentruppen - ist zwar ohne jeden Zweifel notwendig und jeder Erfolg dabei zu begrüßen. Aber er bleibt von beschränktem Wert, solange die dahinter liegenden Konflikte nicht angegangen werden. So dürften die meisten Menschen im sunnitischen Falludscha nicht allein vor dem IS oder den anhaltenden Kämpfen geflohen sein. Viele flüchteten wohl auch aus Angst vor Rache-Aktionen oder Willkürattacken schiitischer Milizen. Die gelten als nicht minder brutal und durften trotz ihres zweifelhaften Rufes mit offener iranischer Unterstützung eine tragende militärische Rolle bei der Bodenoffensive Richtung Falludscha spielen, während die USA flankierend Luftangriffe flogen. Lediglich bei den Gefechten innerhalb Falludschas mussten die Schiiten-Milizen außen vor bleiben.
Iran und Saudi-Arabien als Scharfmacher
Regierungschef Abadi - selbst Schiit - ist es bisher nicht gelungen, genügend Vertrauen innerhalb der sunnitischen Minderheit aufzubauen, die während der Herrschaftszeit von Ex-Diktator Saddam Hussain privilegiert war, danach jedoch politisch bewusst marginalisiert wurde. Ihm fehlt dafür die nötige Durchsetzungskraft und möglicherweise auch der politische Wille. Schon jetzt scheint daher absehbar, dass auch der Vormarsch auf die letzte irakische IS-Bastion, das erdölreiche Mossul, die Spannungen zwischen den Volksgruppen neu anheizen dürfte. Das schließt auch die Kurden ein, die sich mit ihren Einheiten an der Offensive beteiligen und die daher künftig politische und wirtschaftliche Mitsprache einfordern werden. Und so wird mit weiteren Flüchtlingswellen und noch größerem menschlichen Leid auch hier zu rechnen sein.
All dies zeigt: Es geht nicht nur um den IS. Es geht immer auch um konkrete Macht- und Verteilungskonflikte, die von den konfliktführenden Parteien mitunter bewusst konfessionell oder ethnisch aufgeladen werden, um sich den Rückhalt bestimmter Gruppen oder Stämme zu sichern. Das syrische Regime, die unterschiedlichen syrischen Oppositionsgruppen, kurdische Peschmerga oder schiitische Milizen im Irak - sie alle zehren in unterschiedlicher Weise und Intensität genauso von diesem Mechanismus wie der IS. Eine besonders unrühmliche und gefährliche Rolle spielen dabei die rivalisierenden Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien. Statt mäßigend Einfluss zu nehmen, fachen sie die konfessionellen Konflikte regelmäßig selbst mit an.
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