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Gesellschaft

Ein Krieg um Worte

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
7. September 2018

"Hetzjagd" oder "Trauermarsch", "Herausforderung" oder "Mutter aller Probleme" - der politische Streit ist ein Streit um Worte. Das verstellt aber den Blick aufs Wesentliche, meint Martin Muno.

Bild: Getty Images/S. Gallup

Was ist eine "Hetzjagd"? Und was, bitteschön, ein "Mob"? Für den Duden als maßgebliches deutsches Wörterbuch ist das völlig klar: Eine Hetzjagd ist im ursprünglichen Sinn eine "Jagd jeder Art, bei der Wild, besonders Schwarzwild, mit Hunden gehetzt wird." Im übertragenen Sinn versteht man darunter "das Verfolgen, Jagen eines Menschen". Unter einem Mob versteht man laut Duden "Pöbel, kriminelle Bande, organisiertes Verbrechertum".

Anscheinend ist das aber nicht ganz so klar: Einerseits gingen Medienberichte um die Welt, wonach in der sächsischen Stadt Chemnitz eine Gruppe Rechtsextremisten ausländisch aussehende Menschen bedrohte und jagte. Auf Twitter, Youtube und Facebook wurden entsprechende Videos hochgeladen, auf denen auch Sätze wie "Elendes Viehzeug" und  "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer" zu hören waren. Mehrere Reporter bestätigten, dass es solche Jagdszenen gegeben habe. Ein mutmaßliches Opfer, das Strafanzeige gestellt hatte, gab ein Interview. Und auch Regierungssprecher Steffen Seibert verurteilte das "Zusammenrotten" und die "Hetzjagd auf Menschen anderen Aussehens".

Doch es gibt auch eine andere Sichtweise: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel CDU-Mitglied, beteuerte im Landtag: "Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome." Und einen Tag später sagte Deutschlands oberster Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen, ihm lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben".

Unsere Welt erschließt sich über Sprache

Was denn nun? Und warum wird über solche Begriffe überhaupt so vehement gestritten? Die Antwort lautet: Unsere Vorstellung von Politik wird vor allem durch Sprache konstruiert und vermittelt. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein schrieb schon vor 100 Jahren: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Dass heißt, unsere Welt, erst recht die abstrakte politische, erschließt sich über Sprache - weswegen auch die Medien so eine eminent wichtige Rolle in modernen Gesellschaften einnehmen.

DW-Redakteur Martin Muno

Im Widerstreit um das "richtige" politische Handeln ist es von daher wichtig, welche Bezeichnung sich im gesellschaftlichen Diskurs durchsetzt. Der italienische Theoretiker Antonio Gramsci benutzte zur Erklärung dieses Zusammenhangs den Begriff "kulturelle Hegemonie". Kurz gefasst bedeutet das, dass eine Gruppe erst dann die politische Macht übernehmen kann, wenn sich ihre Vorstellungen in der Gesellschaft zumindest ein Stück weit durchgesetzt haben. Gramsci war selbst Marxist, aber seine Erkenntnisse wurden von der Neuen Rechten, darunter auch Steve Bannon, begeistert übernommen.

Deshalb ist der politische Kampf vor allem ein Kampf um Begriffe. Denn ob man von einem "Mob" spricht, der "Hetzjagden" veranstaltet, oder von "besorgten Bürgern", die einen "Trauermarsch" für den ermordeten Daniel H. abhalten, definiert die Sichtweise. Genauso, ob man die Migrationsfrage als "Herausforderung" sieht, wie Kanzlerin Angela Merkel oder als "Mutter der Probleme", wie Innenminister Horst Seehofer. Und die mehrheitsfähige Sichtweise bestimmt die politische Kultur eines Landes. Je stärker sich schließlich eine Sichtweise durchsetzt, desto stiller wird die Minderheit: die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann prägte dazu den Begriff "Schweigespirale". Der Kampf um die Politik ist schlussendlich der Kampf, Dinge in bestimmter Weise sagen zu dürfen. Nicht umsonst wird mit der Floskel "das wird man doch noch sagen dürfen" meist eine Aussage eingeleitet, die der allgemeinen Vorstellung, was man noch sagen darf, eklatant widerspricht.

Streit um Hegemonie kein neues Phänomen

Der Streit um Worte als Streit um Hegemonie ist eigentlich kein neues Phänomen. Ein Beispiel ist die 68er-Bewegung in Deutschland, Frankreich oder den USA: War sie notwendig für eine Modernisierung der Nachkriegsgesellschaften und hat erstarrte Strukturen aufgelöst? Oder hat sie zu einem allgemeinen Werteverfall beigetragen, worunter wir noch heute leiden? Das sind Fragen, die immer noch Kontroversen auslösen.

Der aktuelle Streit (bei dem es sich nur vordergründig um einen Streit über die Flüchtlingspolitik handelt, sondern vor allem darüber, wie multikulturell wir leben wollen, können oder müssen oder ob unsere Identität vor allem national bestimmt ist) wird allerdings mit anderen Waffen geführt, als noch vor wenigen Jahren: Damals war das Medienangebot überschaubar. Paul Sethe, einer der Gründungsherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb sogar: "Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten." Das ist heute völlig anders: Denn jeder kann seine Ansichten in den sozialen Medien verbreiten - und mit einem einzigen Tweet zehntausende Menschen erreichen.

Eskalation durch soziale Medien

Da die meisten Menschen in den sozialen Netzwerken vor allem die Informationen aufrufen, die dem eigenen Standpunkt entsprechen und dieses Verhalten zudem von Algorithmen etwa in der Suche verstärkt wird, geraten wir zunehmend in Filterblasen. Das bedeutet, dass wir die Informationen, die unserem Standpunkt widersprechen, gar nicht mehr wahrnehmen. Um im Getöse der Kommunikation überhaupt noch durchzudringen, gibt es ein probates Mittel, das schon Kinder kennen: Die Lautstärke erhöhen. Und so sind es keine gewaltsamen Ausschreitungen mehr (die uns eigentlich hinreichend alarmieren müssten), sondern Hetzjagden; es sind keine - zugegebenermaßen beängstigend randalierenden - Neonazis und Hooligans mehr, sondern es ist der Mob.

Mit dem Gebrauch der Sprache kann man die Vorgänge in Chemnitz sowohl dramatisieren als auch verharmlosen. Ja, es ist richtig, dass wir uns empören, wenn Nazis so unverschämt den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, und wir uns fragen müssen, wie niedrig die Schamschwelle sinkt, wenn Chemnitzer Bürger gemeinsam mit ihnen demonstrieren. Aber müssen wir verbal dabei immer Vollgas geben? Auf der Strecke bleibt dann eine Analyse dessen, was wirklich geschehen ist - und was wir tun müssen, damit so etwas nicht mehr vorkommt.

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