Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Die Einigung über den Brexit könnte an einer kleinen Halbinsel scheitern. Das zeigt auf drastische Weise, wie absurd das ganze Unternehmen ist, meint Martin Muno.
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Der neueste Brexit-Streit dreht sich um eine sechs Quadratkilometer große Halbinsel an der spanischen Südküste mit gut 30.000 Bewohnern und rund 200 frei lebenden Affen. Seit 1704 gehört dieser Zipfel Land allerdings zu Großbritannien. Obwohl Gibraltar 1713 im Frieden von Utrecht auch offiziell dem britischen Königreich zugesprochen wurde, beharrt Spanien bis heute auf seinem territorialen Anspruch. So schrieb der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez am Donnerstag auf Twitter: "Meine Regierung wird immer die Interessen Spaniens verteidigen. Wenn es keine Änderungen gibt, werden wir gegen den Brexit ein Veto einlegen."
Die Vorbehalte Sánchez' sind durchaus nachvollziehbar. Denn wenn die nordirisch-irische Grenze ein entscheidender Streitpunkt in den Verhandlungen ist, der nach dem gegenwärtigen Brexit-Kompromiss erst 2020 ausgeräumt werden soll: Warum soll die künftige EU-Außengrenze zwischen Spanien und Gibraltar dann unkommentiert akzeptiert werden - mit unabsehbaren Folgen für die rund 10.000 Spanier, die in Gibraltar arbeiten?
Geschlossene Grenzen?
Dennoch ist es grotesk, dass der Streit um eine kleine Felseninsel den Versuch torpedieren könnte, die Scheidung zwischen der Europäischen Union und Großbritannien zumindest noch halbwegs vernünftig zu regeln. Auch der spanische Regierungschef sollte wissen, dass ein ungeregelter Brexit unabsehbare Folgen auch für Gibraltar haben wird. Es ist nicht undenkbar, dass die Grenzen zwischen Spanien und Gibralter zumindest vorübergehend geschlossen werden - so wie es zwischen 1969 und 1985 der Fall war. Nicht umsonst haben beim Brexit-Referendum 96 Prozent der Stimmberechtigten für einen Verbleib in der EU gestimmt.
Wenn der Streit um den Brexit nun den Fokus auf Gibraltar richtet, wird deutlich, wie anachronistisch der Status ist. Großbritannien bezeichnet die Halbinsel seit 2002 als "Überseegebiet" - so wie die Bermudas oder die Falklandinseln. Damit soll der historisch belastete Begriff der Kolonie oder Kronkolonie vermieden werden.
Kolonie mit hohen Zustimmungsraten
Faktisch ist Gibraltar aber genau das: eine Kolonie. Allerdings eine, die hohe Zustimmungsraten unter der Bevölkerung hat: In zwei Referenden über den künftigen Status stimmten jeweils fast 100 Prozent der Wähler für die Beibehaltung des Ist-Zustandes. Spanien sollte sich allerdings hüten, den britischen Kolonialismus zu laut zu verurteilen - hat es doch mit Ceuta und Mellila ebenfalls zwei Exklaven an der gegenüberliegenden Küste des Mittelmeeres und beharrt auf deren anachronistischer Existenz.
Der Affentanz um den Affenfelsen macht vor allem eines klar: Der Brexit ist trotz aller Versuche, ihn bürokratisch zu zähmen, ein Irrsinn. Und wie die Zähmung aussehen könnte, ist nach wie vor unklar, denn die Brexit-Einigung, die am Sonntag von den EU-Regierungschefs durchgewunken werden soll, hat viele Probleme einfach auf die lange Bank geschoben. Und ob das britische Unterhaus ein solches Papier absegnet, steht völlig in den Sternen. Somit steht auch der Worst Case weiter im Raum - ein ungeregelter Brexit. Ein Außenminister im Ruhestand wie der Brexit-Chefideologe Boris Johnson mag mit dessen Auswirkungen vielleicht klar kommen - einer üppigen Pension sei Dank. Für viele Menschen gerade im Grenzgebiet können die Auswirkungen dagegen verheerend sein.
Gibraltar - britische Enklave an der spanischen Küste
Es ist nur ein Felsen mit Ausläufern. Aber die Halbinsel ist umstritten: Seit 1713 steht sie unter britischer Souveränität, wird jedoch auch von Spanien beansprucht. Seit dem Brexit-Votum flammt dieser Streit neu auf.
Bild: Getty Images/P. Blazquez Dominguez
Idyll an Andalusien
6,5 Quadratkilometer Land und ein 426 Meter hoher Felsen: Die Halbinsel grenzt an die südspanische Region Andalusien. Und das Leben könnte so entspannt sein, wenn nicht der "Frieden von Utrecht" wäre oder Gibraltar nicht so strategisch wichtig an der gleichnamigen Meeresenge liegen würde.
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The Rock - oder doch el Peñón?
Der Frieden von Utrecht beendete 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg. Dafür musste sich Spanien von einem Gutteil seiner Besitzungen trennen. Gibraltar fiel - ebenso wie die Balearen-Insel Menorca - an Großbritannien. Bis heute steht die Halbinsel, die in der Bucht von Algeciras liegt, unter britischer Souveränität, wird jedoch nach wie vor auch von Spanien beansprucht.
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Die Wahrzeichen: Affen
Gibraltar ist der einzige Ort in Europa, an dem Affen frei leben. Deswegen ist Gibraltar auch als "Affenfelsen" bekannt. Der Legende nach bleibt die Halbinsel so lange britisch, wie die Berberaffen den Felsen bewohnen. Als der Bestand im Zweiten Weltkrieg schrumpfte, soll Winston Churchill persönlich dafür gesorgt haben, Nachschub aus Marokko zu importieren.
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Einreise in die Kolonie
Wer vom spanischen Grenzort La Línea de la Concepción nach Gibraltar will, geht am besten zu Fuß. Wer per PKW einreisen will, muss zumeist lange Wartezeiten in Kauf nehmen, denn viele Spanier fahren zum Tanken auf die Halbinsel. Weil dort keine Mehrwertsteuer erhoben wird, ist Benzin konkurrenzlos billig - zum Leidwesen der andalusischen Tankwarte.
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Einreise über die Landebahn
Doch egal ob zu Fuß oder per Auto - um nach Gibraltar zu gelangen, muss man die Start- und Landebahn des Flughafens überqueren. Das ist weltweit einmalig. Zehnmal täglich starten und landen dort Passagiermaschinen; dann wird das Rollfeld für einige Minuten gesperrt. Alle Flüge kommen aus oder gehen nach Großbritannien.
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Noch wehen drei Flaggen
Drei Flaggen zeigen derzeit den Status der Halbinsel an: Der britische Union Jack, die erst 1982 eingeführte Flagge Gibraltars mit einer Burg und einem goldenen Schlüssel und die Flagge der EU. Diese wird aber am 29. März 2019 endgültig eingeholt - sehr zum Leidwesen der Einwohner. Denn die hatten beim Brexit-Referendum zu 96 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt.
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Dicht besiedelt
Rund 33.000 Menschen leben in Gibraltar. Damit ist die Halbinsel eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde. Wer hier lebt, bekommt automatisch einen britischen Pass - zusätzlich zu seiner alten Staatsbürgerschaft. Einzige Amtssprache ist Englisch - auf den Straßen herrscht allerdings Rechtsverkehr.
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Britisch-andalusisches Flair
So sind auch die Straßenschilder und Abfallbehälter überwiegend Englisch beschriftet. Die britische Flagge ist allgegenwärtig. Doch die Sonne und das nahe Meer erwecken nicht nur in der Fußgängerzone der Main Street ein eher südspanisches Lebensgefühl.
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Fish & Chips statt Tapas & Paella
Überwiegend britisch ist die Gastronomie: In Gibraltar-Stadt reihen sich traditionelle Pubs aneinander. Und auch wenn sich auf der Speisekarte spanische Anklänge finden: Bezahlt wird am besten in Pfund - es sei denn, man will absurde Preisaufschläge in Kauf nehmen.
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Preis- und Anlage-Paradies
Apropos Preise: Gibraltar gilt als Steuerparadies. Extrem niedrige Steuersätze locken Anleger aus aller Welt an - sehr zum Verdruss Spaniens. Die Regierung in Madrid befürchtet, dass zahlreiche Spanier Schwarzgeld in Gibraltar bunkern. Wer kleinere Summen legal investieren möchte, ist bei den zahlreichen Schnäppchenläden gut aufgehoben.
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Souvenir, Souvenir
Auch für den ganz kleinen Geldbeutel gibt es Andenken - etwa die unvermeidbaren Magnete für die Kühlschranktür. Ob der Handelsstandort Gibraltar auch künftig so attraktiv bleiben wird, ist unklar. Denn die EU hat klargestellt, dass ein Handelsabkommen zwischen London und Brüssel auch von Spanien abgesegnet werden müsste.
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Unklare Aussichten
Zumindest die Verwaltung Gibraltars zeigt sich besorgt: Regierungschef Fabián Picardo sagte, Gibraltar werde weder politisches Pfand noch Opfer beim Brexit werden. Wie blank die Nerven auf britischer Seite liegen, machte der Ex-Chef der Konservativen Partei, Michael Howard, deutlich: Der sprach bereits von einem möglichen Krieg.
Bild: Getty Images/S. Gallup
Keep calm!
Doch auch wenn die Zukunft unsicher ist: Was bleibt, ist ein wunderschönes Fleckchen Erde in Sichtweite zu Afrika mit genügend Sonne und Strand, um die Sorgen erst einmal auf die lange Bank zu schieben.