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Politik

Der Zorn der irischen Wähler

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
9. Februar 2020

Die Zeichen in Irland stehen auf Umbruch: Regierungschef Leo Varadkar dürfte sein Amt verlieren, drei größere Parteien liegen Kopf an Kopf. Und der Brexit macht die Vereinigung denkbar, meint Barbara Wesel.

Das Auszählen der Stimmen könnte mehrere Tage dauern, heißt esBild: AFP/P. Nicholls

Undank ist der Wähler Lohn. Irlands Taoiseach Leo Varadkar wirkte nach außen wie ein erfolgreicher Regierungschef. Er agierte clever im Umgang mit der Regierung in London und dem Brexit und hielt die EU-Länder auf seiner Seite. Gleichzeitig trieb er die soziale Modernisierung voran: 2018 stimmte eine Mehrheit der Iren für die Freigabe der Abtreibung. Eines der letzten großen Tabus aus der katholisch-dominierten Vergangenheit war gefallen. Und der schwule Ministerpräsident mit pakistanisch-stämmigem Vater wirkte selbst wie die Verkörperung des modernen Irland - weltoffen und wirtschaftsfreundlich.

Der Zorn der Wähler

Aber Leo Varadkar machte einen entscheidenden Fehler: Er meisterte zwar die außenpolitischen Herausforderungen, aber er verstand zu spät, was den Wählern wirklich auf den Nägeln brennt. Es geht ihnen um bezahlbare Wohnungen und bessere soziale Dienste, vor allem Investitionen in das ausgezehrte Gesundheitswesen. Die Irische Wirtschaft floriert und hat sich von den harten Jahren nach dem Zusammenbruch der Banken 2010 erholt. Aber davon ist bei den normalen Iren noch wenig angekommen. 
Es sind ganz ähnliche Probleme wie in anderen europäischen Ländern. Teile der Bevölkerung fühlen sich vom wirtschaftlichen Erfolg ausgeschlossen, die Umverteilung klappt nicht mehr, die globalen Eliten werden als raffgierige Profiteure des Systems gesehen und viele Arbeitnehmer sind mit ihrer Situation unzufrieden. So gibt es in Dublin zwar Jobs, aber keine bezahlbaren Wohnungen. Und die Jahre der drastischen Sparpolitik haben spürbare Löcher ins soziale Netz des Landes gerissen.

DW-Europa-Korrespondentin Barbara WeselBild: DW/G. Matthes

Die beiden traditionellen Regierungsparteien des Landes, Varadkars Fine Gael und Fianna Fail, bislang auf den Oppositionsbänken, bekamen also den Zorn der Wähler zu spüren. Er richtet sich auch gegen ein System, in dem beide sich seit Jahrzehnten die Macht zureichen, während ideologische und politische Unterschiede zwischen den beiden Mitteparteien kaum noch zu erkennen sind. Die Wähler aber wollen echte Alternativen, mit ihrer Stimme etwas bewegen. 

Eine Revolution an der Wahlurne

Das erstaunlichste Ergebnis aber ist, dass nach Jahrzehnten in der politischen Wildnis, Sinn Fein seine Vergangenheit überwinden konnte. Die Partei, die auf immer mit der Gewalt der IRA und den Bruderkämpfen der "Troubles" verbunden schien, ist wieder wählbar. Für viele ältere Iren gilt das Tabu weiter, aber gerade junge Wähler, auf der Suche nach einer "anderen" Politik, haben sich davon befreit. Parteichefin Marylou McDonald nennt es eine Revolution an der Wahlurne. Ihr ist es gelungen, Sinn Fein zu einer als moderat geltenden, linken politischen Kraft umzubauen. 

Damit wird zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Vorherrschaft der beiden großen Parteien gebrochen. Die Zeit der einfachen Mehrheiten ist vorbei. Es entsteht ein Mehrparteiensystem, das die Bildung von komplizierten Koalitionen nötig macht. Auch in diesem Sinne wird Irland anderen europäischen Ländern ähnlicher. Wenn jetzt die ehemals Großen auf etwas über 20 Prozent geschrumpft sind, erlebt die Inselrepublik die gleich politische Zersplitterung, wie sie etwa in Spanien, Italien oder Deutschland zu beobachten ist. 

Demensprechend schwierig wird auch in Dublin die nächste Regierungsbildung. Fine Gael und Fianna Fail wollen beide nicht mit Sinn Fein zusammen arbeiten. Ist die Folge eine ewige große Koalition mit schwacher Mehrheit? Dann könnte die Strafe der Wähler beim nächsten Mal noch deutlicher ausfallen. 

Der Brexit und die Wiedervereinigung 

Der unerwartete Aufstieg der irischen Nationalisten-Partei Sinn Fein, ist ein Signal dafür, dass Irland einer Wiedervereinigung jedenfalls näher rückt. Nachdem London im Zuge des Brexit sein schwindendes Interesse an der Zukunft seiner nördlichen Region klar gemacht hat, wird plötzlich das scheinbar Unmögliche denkbar. Denn wenn Nordirland und die Republik künftig weiter nach EU-Regeln in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum leben sollen, dann wird die Anbindung an Großbritannien schwächer und das Argument für eine politische Einheit stärker. 

Das dürfte nicht schnell gehen, sondern ein langsamer Prozess werden, denn beide Seiten wissen, dass die Wunden aus den Jahren der Gewalt noch nicht verheilt sind. Solange die Generation lebt, deren Jugend von Bombenanschlägen, politischen Morden und brutalen Straßenkämpfen bestimmt war, kann es nur eine schrittweise Annäherung geben. Auch gibt es in Dublin wenig Neigung, sich das wirtschaftsschwache Belfast vorschnell einzuverleiben. 

Aber der Brexit und das jüngste Wahlergebnis in der Republik bringen das Land auf einen Kurs, der in Richtung Vereinigung zu weisen scheint. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der britische Premier den Weg dafür eröffnete, als er einer Grenze durch die irische See zustimmte, weil er einen harten Brexit wollte. Europas Musterknabe Irland geht jedenfalls bewegten Zeiten entgegen. 

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