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Politik

Bequeme Schublade für Corona-Kritiker

17. Mai 2020

Bestenfalls als unreflektierte Bürger, zumeist jedoch als Verschwörungstheoretiker werden Kritiker der Corona-Maßnahmen bezeichnet. Solch eine Etikettierung zerstört jede gesellschaftliche Debatte, meint Nemanja Rujević.

Ein Teilnehmer der Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen in Stuttgart nimmt die abwertende Kritik am Anliegen der Demonstranten mit Ironie und hat sich einen Alu-Hut sowie ein Schild mit der Aufschrift "Verschwörungstheoretiker" gebastelt.
Ein Teilnehmer der Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen in Stuttgart mit IronieBild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Die Jagd auf Verschwörungtheoretiker ist in Deutschland ein Vollzeitjob, der nach dauerhafter Aufmerksamkeit verlangt. Ende Januar wurden die Kollegen vom Bayerischen Rundfunk fündig: In der Sendung "quer mit Christoph Süß" zerlegte der Moderator die angebliche Verschwörungstheorie, nach der das Virus aus Wuhan viel schlimmer sei, als man in Deutschland damals wahrnehmen wollte.

Entsprechende Ansichten bezeichnete Süß als "kollektive Hypochondrie", "Pandemiegrusel" und "Paranoiaproduktion". Weiter wurde ein deutscher Arzt zitiert, der das Coronavirus als "nicht so gefährlich" bezeichnete, die wirklich schlimme Grippewelle vor zwei Jahren sei viel folgenreicher gewesen.

Gestern noch eine Verschwörungstheorie, heute schon Mainstream

Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Was gestern noch als Verschwörungstheorie galt, ist heute eine allgemein anerkannte Tatsache. Und die rhetorischen Kanonen, die der BR-Moderator damals abfeuerte, würden ihn heute als "Verschwörungstheoretiker" klassifizieren.

Trotzdem lässt bei vielen Journalisten, Analytikern und Politikern das Bedürfnis nicht nach, jeden Andersdenkenden in eine eindeutige Schublade zu stecken. Jetzt heißt es, die immer stärker wachsenden Proteste gegen die Corona-Maßnahmen seien ein Sammelbecken für Verschwörungtheoretiker, Rechtsextreme und - Achtung, das ist neu! - linke Esoteriker.

"Eine toxische Mischung" titelte etwa die links-alternative Tageszeitung "taz". Nach Darstellung vieler Medien wird die Mischung gerade dadurch toxisch, da auch "ganz normale Bürger" dabei sind. Und dem ganz normalen Bürger ist ja bekanntermaßen nicht viel zuzutrauen, weil er, wie ein TV-Reporter jüngst erklärte, dazu neigt sich "unreflektiert hineinziehen" zu lassen.

Braucht jeder Demonstrant einen Disclaimer?

Was haben die Menschen nicht alles ertragen in den zurückliegenden Wochen: brav "Stay at Home"-Botschaften und Kontaktverbote befolgt, widersprüchliche Expertenmeinungen über Mundschutz, Verdopplungszeit und Reproduktionszahl zu verstehen versucht, mit Kindern im Haus irgendwie ihr Homeoffice und deren Schulunterricht organisiert. Oder sie wurden in die Kurzarbeit und vielfach existenzielle Not geschickt. Und wenn nun genau diese Menschen Unmut, Sorge oder Skepsis laut äußern wollen, werden sie bestenfalls zu "ganz normalen Bürgern" erklärt, die sich von "Verschwörungstheoretikern" einspannen lassen!

DW-Redakteur Nemanja RujevićBild: DW

Ist es tatsächlich so weit gekommen, dass alle Kritiker und Demonstranten einen Disclaimer hochhalten müssen, wonach sie nicht automatisch mit allem übereinstimmen, was auf der Bühne gesagt wird? Ist das nicht selbstverständlich?

Muss man sich mit jeder Kritik zurückhalten, allein weil manche unter den Kritikern ein zusammenphantasiertes Drehbuch hinter Corona-Krise vermuten, sich nur noch nicht entscheiden können, ob sie das Virus für eine Biowaffe der Chinesen, der Amerikaner oder für den Versuch einer Machtübernahme durch Bill Gates halten?

Wie in der Flüchtlingskrise

Jetzt droht eine Polarisierungsspirale, wie das Portal "Zeit Online" zutreffend beschrieb: "Wachsender Protest führt zu wachsender Kritik und Aufmerksamkeit, führt zu noch mehr Protest."

Es hat etwas von einem Déjà-vu: Vor fünf Jahren herrschte in Deutschland noch die vielfach beschworene Willkommenskultur und in vielen Meinungsbeiträgen der Medien wurden alle, die Bedenken gegen die Flüchtlingspolitik geltend machten, in die rechtsextreme Ecke geschoben. Doch die Ausgrenzung jeglicher Kritik scheiterte grandios: Im Ergebnis entwickelte sie sich zum Rückenwind für die rechtspopulistische "Alternative für Deutschland" - eine Partei, die gewiss von vielen Neonazis und Rassisten gewählt wird, die aber ohne den ausgegrenzten "ganz normalen Bürger" nie so groß geworden wäre.

Das Verrückte dabei: Längst hat Bundeskanzlerin Merkel den damals artikulierten "Sorgen der Bürger" durch das Flüchtlingsabkommen mit dem türkischen Sultan Erdogan und eine konsequentere Abschiebepolitik inhaltlich entsprochen. Weil sie das aber so nie sagt, durfte sie ihren Lorbeerkranz als "Chancellor of the free world" (Time-Magazine) behalten.

Nichts dazu gelernt

Nun hat man anscheinend aus der vorherigen Polarisierungsspirale so wenig gelernt wie aus früheren Pandemien. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, muss kontroverse Debatten und Proteste aushalten können, ohne dabei unüberwindbare Gräben entstehen zu lassen.

Es ist eben nicht damit getan, mit abwertenden Klassifizierungen wie "Sammelbecken" oder "Verschwörungstheorie" (und viele Steigerungen sind noch denkbar) unliebsamen Kritikern einen symbolischen Maulkorb zu verpassen. Gerade diejenigen, die sich für die Vorkämpfer der Demokratie halten, sollten auf solche ausgrenzenden Etiketten verzichten.

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