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Politik

Die Mär vom Untergang der EU

12. Mai 2020

Dank der Corona-Pandemie steckt die EU in einer veritablen Krise. Aufgrund mangelnder Solidarität des Nordens drohe sogar ein Ende der Union, heißt es zurzeit oft. Aber soweit wird es nicht kommen, meint Zoran Arbutina.

Bild: picture alliance/dpa/B. Roessler

Seit Wochen wird sie wieder an die Wand gemalt - die Gefahr eines Scheiterns der Europäischen Union. Jetzt, da die Volkswirtschaften aller EU-Länder durch die Corona-Krise stark angeschlagen sind, brauche man eine gemeinsame finanzpolitische Antwort. Das Zauberwort heißt Solidarität, und deren Konkretisierung trägt den Namen "Corona-Bonds" - die alte Idee der Eurobonds, einfach an die gegenwärtige Situation angepasst und umbenannt.

Der reichere Norden der EU, so die Forderung, solle sich mit dem weniger reichen Süden der Union solidarisch zeigen. Um die Wirtschaft dort wieder in Gang zu setzen, müsse er einer Vergemeinschaftung der Schulden zustimmen. Ansonsten drohe - wahlweise - "eine tödliche Gefahr" für die EU, das "Zerreißen der Euro-Zone", der "Anfang vom Ende" oder gar der "Bruch" der EU.

Nicht die erste Krise der EU

Es ist nicht das erste Mal, dass die Gefahr des Auseinanderbrechens der EU diagnostiziert wird. Das war auch in der Flüchtlingskrise von 2015/16 so und davor in der Finanz- und Schuldenkrise von 2008/09. Und stets appellierten mal die Mitglieder im Norden und Westen, mal die im Süden an die Solidarität der jeweils anderen. Dabei gehört Solidarität gar nicht zu den konstitutiven Elementen der Europäischen Union.

DW-Redakteur Zoran Arbutina

Schon bei der Keimzelle der europäischen Integration, der 1950 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, war die wirtschaftliche Zusammenarbeit der zentrale Punkt. Das übergeordnete Ziel damals: die Sicherung eines dauerhaften Friedens in Europa durch massive Aufrüstung, wofür auch die Ressourcen des einstigen Kriegsgegners Deutschland gebraucht wurden. Also stellte man die militärischen Schlüsselindustrien Kohle und Stahl aller beteiligten Länder unter gemeinschaftliche Kontrolle. Die Logik: Wer in der Produktion voneinander abhängt und miteinander Handel treibt, der kann sich nicht mehr bekriegen.

Alle späteren Vertiefungen und Erweiterungen dieser Gemeinschaft folgten stets diesem Geist - von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957, der Schaffung des "Schengen-Raumes" 1985, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 1990 bis zum gemeinsamen Binnenmarkt 1993 und dem seit 2009 geltenden Vertrag von Lissabon. Es ging immer in erster Linie darum, das grenzüberschreitende Handeln und Wirtschaften zu erleichtern, gemeinsame Regeln zu etablieren und so den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital sicher zu stellen.

Das eine Europa, und das andere

Solidarität als Ziel der EU kommt in diesem Konzept nicht vor. Es gibt zwar verschiedene - sehr üppig ausgestattete - Struktur- und Regionalfonds der EU, von denen vor allem die wirtschaftlich weniger entwickelten Staaten profitieren. Ihr Ziel ist aber erklärtermaßen die Angleichung der Produktions- und Lebensbedingungen innerhalb des Binnenmarktes. Man kann diese Fonds zwar als Akt der Solidarität ansehen, in erster Linie sind sie jedoch wirtschaftspolitische Instrumente im Dienst des Marktes.

Entscheidend ist: Von dieser wirtschaftsorientierten EU profitieren seit ihrer Gründung (beziehungsweise ihrem Beitritt) alle. Einige freilich etwas mehr (zum Beispiel Deutschland oder die Niederlande), andere etwas weniger. Aber am Ende gilt: Als Mitglied der EU steht jedes Land besser da, als wenn es draußen wäre. Populistische Sprüche hin, nationalistische Rhetorik her - außer in Großbritannien ist diese Tatsache auch überall Konsens. Daher auch die seltene Einigkeit, wenn es um die Brexitverhandlungen geht - niemand sonst möchte den Club verlassen. Die EU als ökonomische Interessengemeinschaft funktioniert also.

Es gibt aber noch ein zweites Europa: die vielfach beschworene "Wertegemeinschaft". Allein: Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung oder Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte sind zwar wünschenswert, aber nicht konstitutiv für die EU. In vielen Mitgliedsstaaten gehören sie ohnehin zum gesellschaftlichen Selbstverständnis - auch ohne die EU. In anderen eher nicht - trotz EU.

Europäische Realität

Insbesondere diejenigen Werte, die als marktrelevant gelten, werden auf EU-Ebene geschützt. Denn keiner macht gerne Geschäfte mit einem Staat, in dem die Gerichte vom Gutdünken der Mächtigen abhängig sind. Dass aber beispielsweise die Pressefreiheit oft zweitrangig ist, das zeigen Beispiele Ungarn, Polen und auch Kroatien. Dort werden "europäische Standards" oft beliebig interpretiert und genutzt.

Das zeigt sich auch bei den Strafen und Sanktionsmechanismen: Während Verstöße gegen Regeln des Marktes schnell mit Bußgeldern sanktioniert werden, muss man bei Verstößen gegen die ideellen Grundwerte meist nur mit emotionalen Redebeiträgen im Europäischen Parlament rechnen. Das muss man nicht gutheißen, und man kann sich dafür einsetzen, dass sich das ändert. Es ist aber traditionelle Realität in Europa.

Solidarität - wie weit?

Solidarität ist einer dieser ideellen Werte. Es gibt in der EU einen Solidaritätsfonds. Geschaffen wurde er nach der Flutkatastrophe von 2002, um im Falle von großen Naturereignissen finanzielle Wiederaufbauhilfe leisten zu können.

Corona-Bonds sind aber nicht Teil dieser Vereinbarung. Man kann ohnehin darüber streiten, ob eine Vergemeinschaftung von Schulden das geeignete Instrument ist, um die Folgen der Krise zu meistern. Oder es nicht auch andere Möglichkeiten gibt, die genau so effektiv sind - aber mit geringeren Risiken behaftet. Das in der moralischen Kategorie von Solidarität zu diskutieren, ist allerdings verfehlt. Unabhängig davon, was am Ende entschieden wird - an der Frage der Corona-Bonds wird die EU nicht zerbrechen: "It's the economy, stupid!"

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