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Politik

Die tägliche Katastrophe vor Libyens Küste

Soric Miodrag Kommentarbild App
Miodrag Soric
3. März 2020

Als Reporter auf dem Rettungsschiff "Ocean Viking" hat er Dramen bei der Rettung verzweifelter Menschen miterlebt. Was sich Tag für Tag auf dem Mittelmeer abspielt, ist völliges Politikversagen, meint Miodrag Soric.

Bild: Anthony Jean/SOS Mediterranee

Da saß ich plötzlich mit fünf Kleinkindern in den Armen. Ich hockte in der hinteren Ecke eines kleinen, orangefarbenen Rettungsbootes, das sich im offenen Meer vor Libyen durch vier Meter hohe Wellen kämpfte. Einer der Flüchtlingsretter nahm mir, dem Reporter, die Kamera weg und drückte mir stattdessen die durchnässten Kinder in die Arme: Zwei schrien, die anderen schauten apathisch ins Leere. Eine der Mütter, die von dem völlig überfüllten Flüchtlingsboot auf unser Boot gehoben wurde, sackte vor Erschöpfung zusammen. Andere Frauen weinten.

Gleichzeitig begann die Masse der jungen Männer - Schwarzafrikaner, Maghrebiner, Bengalen - zu drängeln: Auch sie wollten auf das sichere Rettungsschiff. Das Flüchtlingsboot drohte zu kippen. Nur die Helfer von "SOS Mediterranee" und "Ärzte ohne Grenzen" bewahrten kühlen Kopf, machten unter Einsatz ihres eigenen Lebens furchtlos ihren Job. Alle 92 Flüchtlinge überlebten.

Gezieltes Wegschauen trotz Menschen in Seenot

Ich frage mich: Was passiert hier gerade? Warum wird auf den Schiffen, die direkt an uns vorbeifahren und die europäischen Reedern gehören, gezielt weggeschaut? Weshalb kommt von der Ölplattform, die gleich neben dem Ort dieser Tragödie steht, keine Hilfe? Und zwar nicht nur an diesem Tag im Februar, sondern nie, wenn derartiges in ihrer Nähe passiert. Ist es nicht seit Jahrhunderten ein Grundsatz der zivilisierten Seefahrt, den Menschen in Not geratener Schiffe zu helfen? Ist das nicht die Pflicht eines jeden Kapitäns - wozu ihn schon allein sein Gewissen treiben müsste? Offenbar zwingen die Eigner der Schiffe die bei ihnen angestellten Mannschaften so zu handeln - den Flüchtlingen in Seenot nicht zu helfen. Denn das brächte nur Scherereien, wird mir später gesagt, und das kostet Geld. Unmenschlichkeit als Dienstanweisung.

DW-Chefkorrespondent Miodrag Soric an Bord der "Ocean Viking" vor der Küste LibyensBild: DW/M. Soric

Kaum einen Politiker in Berlin, Brüssel und Paris scheint das zu stören. Als ob Achselzucken Kernkompetenz für einen Volksvertreter wäre. Sind wir Europäer schon so abgestumpft? Ach, Europa. Einst standen wir für 'Menschenwürde', das 'unbedingte Recht auf Leben' und 'Humanität'. Und jetzt schauen wir einfach weg angesichts der andauernden Flüchtlingsströme aus dem Süden. Der Dreiklang aus 'Sicherheit', 'Demokratie' und 'Wohlstand" soll nur noch für uns Europäer selbst gelten. Die Hilfsorganisationen können das Versagen der Politik in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten nicht ausgleichen. Es ist niederträchtig, diesen Rettern, diesen Helden der Gegenwart, zu unterstellen, dass es ihr Handeln sei, welches die Flüchtlingsströme erst anschwellen ließe.

Nein, es waren die Regierungen in Paris, London und Washington, die den früheren Diktator Gaddafi weggebombt haben - ohne einen Plan zu haben, was danach passieren würde in Libyen. So wie sie auch nach ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch im Irak zuerst alle existierenden Strukturen zerstören und sich dann wunderten, als das Land im Chaos versank. Regierungen, die sich für diese verbrecherischen Entscheidungen nie verantworten mussten. Lieber behängen sie sich gegenseitig mit Orden und schwingen hochtrabende Reden bei Brookings in Washington. Dort kenne ich mich ein bisschen besser aus als auf einem Rettungsboot. Zehn Jahre habe ich als Korrespondent in der US-Hauptstadt verbracht, später war ich in Moskau - immer in Begleitung meiner Familie. Doch was Dutzende Eltern in Togo, Gambia oder Nigeria tagtäglich mitmachen müssen, könnte ich nicht eine Sekunde ertragen: Deren Kinder ziehen auf der Flucht vor Krieg oder Armut durch die Sahara gen Norden. Wer dort nicht verdurstet, wird in Libyen von Kriminellen aufgegriffen und festgehalten. Und kommt erst wieder frei, wenn die Eltern Lösegeld überwiesen haben. Wer kein Geld hat, muss im Zweifelsfall am Telefon mithören, wie das eigene Kind gefoltert wird.

Maulhelden, die mit ihrer Macht nichts anzufangen wissen

Solche Zustände sind eine Folge von völligem Politikversagen. In weiten Teilen Libyens herrscht Anarchie, ein Stellvertreterkrieg tobt. Doch weshalb verhängt die EU keine Sanktionen gegen die Vereinigten Arabischen Emirate, die in großem Umfang Waffen liefern? Weil sie dann konsequenterweise mindestens zwei ihrer eigenen Mitglieder sanktionieren müsste? Auch ein Waffenembargo verhängt vom UN-Sicherheitsrat ist kein Ersatz für praktisches Handeln, zumal wenn es von drei Veto-Mächten unterlaufen wird. Russland und die Türkei schicken sogar Söldner oder Kämpfer nach Libyen, die dort freilich unterschiedliche Seiten unterstützen. Und Europa hat keine Haltung, schaut einfach zu.

Wenn die EU-Staaten gemeinsam und kraftvoll handeln würden, wäre Europa wirklich Europa. Dann wären ihre Bürger, die für die Folgen der Krisen in Nordafrika sowieso zu bezahlen haben, stolze Europäer; und ihre Politiker verantwortungsbewusste Menschen. So aber gleichen viele von ihnen Maulhelden, die mit ihrer Macht, besonders der wirtschaftlichen, nichts anzufangen wissen.

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