Die zögerliche Großmacht
25 Jahre ist Deutschland wieder vereint. In 25 Jahren sind Ost und West zusammengewachsen - und doch in vielen Bereichen unterschiedlich und sich fremd. Das beklagen die Deutschen, aber das ist auch typisch deutsch. Denn die Unterschiede Deutschlands zwischen West und Süd, zwischen Nord und Ost gehören zur Geschichte Deutschlands. Ein Zentralstaat - wie er für unsere französischen Nachbarn im Westen selbstverständlich ist - gehört nicht zum deutschen Selbstverständnis. Deutschland war immer ein Bund der Länder, der Regionen, der Unterschiede.
Deutschland ein Vierteljahrhundert nach dem politischen Wunder der Einheit: Es ist ein beliebtes Land. Es ist ein anerkanntes Land. Es ist ein wichtiges Land. Es ist ein Land mit einer unglaublichen Wirtschaftskraft. Mit einem weltweit bewunderten Sozialsystem. Es ist ein Land, das nicht auf militärische Stärke, auf Waffen setzt, sondern auf Diplomatie, auf Zurückhaltung, auf Überzeugungskraft. Es ist eine zutiefst zivile Republik - das Gegenteil des Deutschen Reiches, vor dem sich seine Nachbarn und später die Welt zu Recht fürchteten.
Einer der einflussreichsten Staaten
Auf Deutschland - insbesondere auf Angela Merkel - schaut die Welt. Auch ohne im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ständiges Mitglied zu sein zählt das Wort der Deutschen und der Kanzlerin. In Europa sowieso, aber auch in der Welt. Deutschland, diese behutsame, zögerliche Großmacht ist ein politisches, ein ökonomisches Schwergewicht und zählt sicher zu den fünf einflussreichsten Staaten der Erde. Und doch ist es ein unsicheres Land: unsicher über sich selbst. Denn es kann mit seiner neuen Rolle, den Erwartungen, die an die Deutschen gestellt werden, schlecht umgehen. Es weiß, es muss mehr Verantwortung übernehmen, es beteuert sogar, das zu wollen. Aber eigentlich im tiefsten Inneren - unterstützt von der großen Mehrheit seiner Bürger - will es das gar nicht. Am liebsten wäre man eine grüne Schweiz.
Deutschland ist - politisch - tief im Westen verankert. Eine Schaukelpolitik wie früher ist undenkbar. Und doch ist die Republik schwankend: zwischen aufgeklärtem, politischen, rationalen Pragmatismus und einem scheinbar nicht zu überwindenden Hang zur Romantik, zum Überschwang, zur Unberechenbarkeit. Selbst Angela Merkel - als Kanzlerin die personifizierte Rationalität - ist davon nicht frei. Zum einen, als sie die Energiewende nach Fukushima von heute auf morgen verkündete - ohne eine Kosten-Nutzen-Kalkulation für die Industrienation aufzustellen. Zum anderen jetzt in der Flüchtlingskrise, als sie alle Regeln und Verabredungen aus humanitären Gründen über Bord warf und die Grenzen weit öffnete - zum Erstaunen und zum Befremden seiner europäischen Nachbarn. Die empfanden das als - eigentlich bestürzend - als "moralischen Imperialismus".
Der deutsche Hang zur Romantik
Auf der anderen Seite gibt sich Deutschland in Europa - zum Beispiel in der Euro-Krise als Zuchtmeister aller - auch wenn das Bild der "schwäbischen Hausfrau" natürlich sympathischer ist. Aber auch das befremdet in Madrid ebenso wie in Paris, von Athen nicht zu reden. Hier zeigt das Land seine ökonomischen Muskeln, hier diktiert es seinen europäischen Partnern die Regeln. Hier nimmt es seine Verantwortung wahr - und leidet doch, wenn es kritisiert wird. Aus deutscher Sicht: zu Unrecht.
"Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht" hat der deutsche Dichter Heinrich Heine vor rund 170 Jahren geschrieben. Das ist vorbei. Aber Deutschland ist immer noch ein Land, das Rousseau mehr schätzt als Voltaire oder Locke. Mit anderen Worten: Ein Land, das sich immer wieder eher dem Überschwang romantischer Einschätzungen hingibt, als rational und pragmatisch zu handeln. Das bringt niemanden mehr um den Schlaf, aber es befremdet unsere Freunde, Nachbarn und Partner.
Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!