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Kommentar: Ein 30-jähriger Krieg?

Alexander Kudascheff15. Juni 2014

Der Anführer der Terrororganisation ISIS stürzt den gesamten Nahen Osten in einen langjährigen Glaubenskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, meint DW-Chefredakteur Alexander Kudascheff.

Alexander Kudascheff (Foto: DW)
Bild: DW

Es ist bestürzend beunruhigend: 10.000 Mann, 10.000 Glaubenskrieger fordern den Nahen Osten heraus. 10.000 Kämpfer der ebenso islamistisch- fundamentalistischen wie mörderischen Terrorbande "ISIS" (Islamischer Staat im Irak und Syrien) bewegen sich auf Bagdad zu, wollen die irakische Hauptstadt einnehmen, den Premierminister wegjagen - und damit die schiitische Herrschaft im Irak beenden. Sie wollen die nahöstliche Nachkriegsordnung umwälzen, die Nationalstaaten beseitigen, die "Umma", die Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen, neu begründen und ein Kalifat errichten, in der die Scharia das Maß aller Dinge ist.

Die in der Frühgeschichte des Islams begründete politische und religiöse Bereitschaft zum Dschihad, zum bewaffneten Kampf, zum Märtyrertod findet bereite Anhänger - in Syrien wie in Irak, wo ISIS bereits ganze Regionen und Landstriche grausam beherrscht. Die sunnitischen Dschihadisten um Abu Bakr al Bagdadi herum - sein Namen erinnert an den ersten Kalifen, also Nachfolger nach Muhammad - fordern aber nicht nur die Schiiten um den Premierminister Nuri al-Maliki in Bagdad heraus. Sie entzünden gerade die ganze Region. Iran ist bereit, den schiitischen Glaubensbrüdern beizustehen und sucht - in einer Umwertung aller bisherigen Bündnispolitik - sogar zumindest rhetorisch den Schulterschluß mit den USA, wo Präsident Barack Obama aber noch zögert, ob und wie er dem bedrängten Premier in Bagdad beisteht.

Die schiitische Achse

Für den Iran ist die Verteidigung der schiitischen Glaubensbrüder in Bagdad eine politische Selbstverständlichkeit, so wie man den alawitischen Präsidenten Bashar Assad in Syrien mit Hilfe schiitischer Milizen der Hisbollah im Libanon unterstützt hat. Teheran hat ein regionalpolitisches Interesse daran, dass die schiitische Achse Hisbollah, Syrien, Irak und Iran Bestand hat: Sie sichert ihren Einfluss. Es ist aber für den Staat der Ajatollahs und Mullahs, die sich in der Traditon des mythisch-charismatischen Ajatollah Khomeinis sehen, undenkbar, dass sie die bedrängten Schiiten in den Nachbarländern im Stich lassen. Das ist ein Grund für einen Dschihad - einen heiligen Krieg.

In Syrien tobt längst ein vernichtender Bürgerkrieg - Assad gegen die Opposition, aber eben auch die Opposition untereinander, ISIS gegen die säkulare Demokratiebewegung. Nach fast 200.000 Toten und Millionen von Flüchtlingen ahnt man, dass Assad an der Macht bleiben wird und der Bürgerkrieg weitergeht. Ein nicht zu stoppendes Blutvergießen. Und drum herum die anderen nahöstlichen Akteure: Die Kurden haben sich im Norden Iraks fest etabliert und fürchten ISIS nicht. Ihre militärische Stärke und ihr neu erwachtes politisches Selbstbewusstsein fordern die Türkei heraus, die sich mit der brisanten Lage an ihrer Grenze zu Syrien bereits mehr als abmüht. Jordanien - seit Jahrzehnten belastet durch Millionen palästinensischer Flüchtlinge - trägt neben dem schon mehr als fragilen Libanon die Hauptlast bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Und niemand weiß, wie stabil das jordanische Königreich im Inneren wirklich ist.

Allmachtsphantasien

Und dann Saudi-Arabien. Der große Gegenspieler Irans am Golf, der Rivale Irans im Kampf um die geistige und auch geistliche Vorherrschaft im Nahen Osten, der Hüter der heiligen Stätten Mekka und Medina. Saudi-Arabien folgt den puristischen Lehren der Wahhabiten, ist also selbst ein religiöser Staat - mit viel Geld. Das Land hat weltweit die islamische Mission unterstützt und dabei oft genug islamistische Gruppen und Banden aufgebaut. Ein Königreich mit einer Doppelmoral: Es fürchtet den Dschihadismus und es fördert ihn gleichzeitig, in der Hoffnung, dass er sich nicht gegen die Herrschaft der Saudi-Dynastie richtet. Doch die wahnsinnige Vision eines Kalifats der ISIS umfasst nicht nur Syrien und Irak, sondern auch Jordanien, den Libanon und eben auch Saudi-Arabien - das Land, aus dem der Prophet stammt. Und der "Kampfname" Abu Bakr al Bagdhadi zeigt die Allmachtsphantasien des Terroristen.

Selbst wenn er bei seinem Vormarsch in offener Feldschlacht besiegt würde, der Dschihadismus ist damit nicht besiegt, sondern bestenfalls vorläufig gestoppt. Der Krieg im Irak, der Krieg um Bagdad ist der Anfang eines neuen Glaubenskrieges zwischen Schiiten und Sunniten. Die Region steht damit vor einem nahöstlichen 30-jährigen Krieg. Und Israels Existenz wird unsicherer denn je sein. Abseits stehen kann der Westen jedenfalls nicht.

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