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Politik

Warum kein atomwaffenfreies Deutschland?

9. Mai 2020

Führende Sozialdemokraten fordern den Abzug der US-amerikanischen Atombomben und werden dafür heftig kritisiert. Das Timing dürfte kein Zufall sein, meint Marcel Fürstenau, der die Kritik scheinheilig findet.

Auf dem Fliegerhorst Büchel (Rheinland-Pfalz) sind Tornado-Bomber stationiert, die atomar bewaffnet werden können Bild: Getty Images/T. Lohnes

Ohne ihm zu nahe zu treten: Rolf Mützenich war im Ausland bislang so gut wie unbekannt. Dabei ist er immerhin Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag. Und die SPD regiert an der Seite Angela Merkels. Im großen Schatten der Bundeskanzlerin haben es aber alle anderen Politiker schwer, international wahrgenommen zu werden - sogar die von ihr ernannten Ministerinnen und Minister. Trotzdem ist es dem No-Name Mützenich jetzt gelungen, sich auch außerhalb Deutschlands zumindest in politisch interessierten Kreisen einen Namen zu machen. Der Grund: Er fordert den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden.  

Dazu wird es zwar so schnell nicht kommen, aber die Reaktionen an der Heimatfront ließen bei diesem heißen Eisen nicht lange auf sich warten. Merkels Sprecher Steffen Seibert verkündete, die Bundesregierung bleibe dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt verpflichtet. Man müsse aber das veränderte Sicherheitsumfeld der vergangenen Jahre erkennen. Es gebe einige Staaten, die weiterhin Atomwaffen als Mittel militärischer Auseinandersetzung betrachteten. Und solange das so sei, bestehe die Notwendigkeit zum Erhalt einer nuklearen Abschreckung fort.

Abschreckungsrhetorik aus dem Koalitionsvertrag

Welche Staaten Merkels Politik-Erklärer damit meinte, blieb offen. Theoretisch kommen alle infrage, die offiziell im Besitz von Atomwaffen sind oder ihren Besitz anstreben. Aber was bedeutet das nun für die in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen? Warum müssen sie zwingend hier stationiert sein? Diese Frage beantwortete ein Sprecher von Außenminister Heiko Maas (SPD): "Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben."

DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Dieser Satz stammt aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Wie er in konkrete Politik umzusetzen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mützenich, der den Stein ins Rollen gebracht hat, sieht keinen Widerspruch zwischen seiner Forderung nach Abzug und der sogenannten "nuklearen Teilhabe" Deutschlands innerhalb der NATO. Sein zumindest semantisch zutreffendes Argument: Im Koalitionsvertrag ist von politischer nuklearer Teilhabe die Rede, ausdrücklich nicht von technischer.

Russland freut sich über den deutschen Atom-Streit

Was aussieht wie ein kleinkariertes Wortgefecht zwischen Gegnern und Befürwortern von Atomwaffen in Deutschland, ist in Wirklichkeit mehr und hat eine lange Tradition. Mützenich darf man getrost unterstellen, den Zeitpunkt für seine Offensive sehr genau überlegt zu haben. Wenige Tage vor dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs punktet er mit seinem forschen Vorpreschen bei allen, die aus Prinzip gegen Atomwaffen sind. Und das sind in Deutschland viele. Dass er auch Beifall von der falschen Seite bekommt, etwa aus Russland, nimmt der Sozialdemokrat billigend in Kauf.

Allzu leicht sollten es sich die Atomwaffen-Anhänger aber auch nicht machen. Ein Blick in die Vergangenheit könnte durchaus hilf- und lehrreich sein. Denn schon ganz andere politische Kaliber als Mützenich haben den Abzug der US-Atombomben aus Deutschland gefordert, darunter sogar zwei Außenminister: 2009 der Sozialdemokrat Frank-Walter Steinmeier, der inzwischen Bundespräsident ist. Und kurz danach sein Amtsnachfolger, der 2016 verstorbene Freidemokrat Guido Westerwelle.

Steinmeier und Westerwelle fühlten sich von Obama ermuntert

Beide beriefen sich auf den damaligen US-Präsidenten Barack Obama. Der hatte 2009 vor 30.000 begeisterten Menschen in Prag versprochen, "eine Welt ohne Atomwaffen schaffen zu wollen". Deren Verbreitung dürfe nicht als unvermeidlich hingenommen werden, fügte der Friedensnobelpreisträger hinzu und wurde dafür in der tschechischen Hauptstadt lautstark gefeiert. Einer wie Mützenich kann sich im Jahr 2020 mit seinem Ruf nach Abzug der Atomwaffen also auf politische Prominenz erster Güte berufen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung mit CDU-Kanzlerin Merkel und FDP-Außenminister Westerwelle nutzte 2009 also die Gunst der Stunde, als sie unter dem Eindruck der Obama-Rede ihren Koalitionsvertrag formulierte: Man wolle sich im Zuge der "Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO" dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen würden.

Ein neuer atomarer Wettlauf ist längst im Gange

Das liest sich wie die Blaupause für den aktuell gültigen schwarz-roten Koalitionsvertrag: "Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen." Es kann also keinen Zweifel geben: Seit über einem Jahrzehnt befürworten deutsche Regierungen unterschiedlicher Couleur den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland.

Dieses hehre Ziel zu erreichen, ist in einer unsicherer gewordenen Welt 2020 schwerer als noch vor zehn Jahren. Umso wichtiger ist es, darüber so oft wie möglich zu reden. Besser noch und wichtiger: international zu verhandeln. Wenn sich die Mächtigen in den Hauptstädten der Global Player aber zunehmend entfremden und militärisch aufrüsten, wächst die Angst vor einem neuen atomaren Wettlauf. Die Anzeichen dafür kann niemand übersehen.

Mahnende und fordernde Stimmen auch weniger einflussreicher Politiker können deshalb hilfreich sein, den Blick zu schärfen. Rolf Mützenich hat dazu seinen Beitrag geleistet. Der mag kurzsichtig sein, vielleicht sogar populistisch. Aber immerhin wird wieder über ein Thema gesprochen und gestritten, bei dem die Welt schon einmal weiter war: atomare Abrüstung - und die Rolle Deutschlands dabei.  

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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