Nur mit Schützenhilfe rettet sich Werder Bremen in die Relegation. Will der Verein sein Schicksal wieder selbst in der Hand haben, muss er sich weiterentwickeln, meint Stefan Nestler.
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Das Wasser der Weser muss ein Zaubertrank sein. Anders ist kaum zu erklären, dass Werder Bremen am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison doch noch den Kopf aus der Schlinge gezogen hat. Alles schien auf den zweiten Abstieg der Vereinsgeschichte nach 1980 hinauszulaufen: Zwei Punkte lag Werder vor dem Finale der Spielzeit hinter dem Tabellen-16. Fortuna Düsseldorf, der auch noch das klar bessere Torverhältnis hatte. Noch vor Wochenfrist, nach der Niederlage in Mainz, hatte der 37 Jahre junge Bremer Trainer Florian Kohfeldt erklärt, er fühle sich leer. Dann die wundersame Wandlung: Am vergangenen Sonntag habe er sich geschüttelt, und am Montag sei die Hoffnung wieder zurückgekehrt, sagte Kohfeldt.
Volle Konzentration, starke Nerven
Und seiner Mannschaft gelang, mit Schützenhilfe, das kleine Wunder. Mit einem 6:1-Kantersieg gegen den 1. FC Köln verdrängte Werder den Konkurrenten Düsseldorf noch vom Relegationsplatz - weil der Fortuna an diesem Samstag beim 0:3 bei Union Berlin alles das fehlte, was in Bremen vorhanden war: hundertprozentiger Einsatz, volle Konzentration, starke Nerven, die nötige Portion Glück und ein unmotivierter Gegner. Gerettet ist Werder damit noch nicht. Nur wenn sich die Bremer in der Relegation gegen den 1. FC Heidenheim durchsetzen, wird es auch in der nächsten Saison an der Weser Bundesliga-Fußball geben.
Erster Heimsieg seit 300 Tagen
"Ein 'Weiter so!' darf es nicht geben", hatte Werder-Aufsichtsratschef Marco Bode schon vor dem Anpfiff angemerkt, und das völlig zu Recht. Denn die Saison 2019/2020 war aus Bremer Sicht eine einzige Enttäuschung. In der Spielzeit davor hatte Kohfeldts Team nur knapp die Europa League verpasst und war erst im Halbfinale des DFB-Pokals unglücklich gegen den FC Bayern ausgeschieden. Die Fans an der Weser hofften auf mehr und wurden ernüchtert. Die Abwehr war wackelig und kassierte deshalb jede Menge Gegentreffer, in der Offensive konnte Werder den Weggang von Max Kruse nicht kompensieren. Der Erfolg gegen Köln war der erste Bundesliga-Heimsieg der Bremer seit genau 300 Tagen. Das sagt eigentlich alles.
Das kleine gallische Dorf
Dass die Werder-Klubspitze an Trainer Kohfeldt festhielt und ihn nicht, den Gepflogenheiten der Branche folgend, in die Wüste schickte, passt irgendwie zu dem Verein. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen, wie das kleine gallische Dorf in den Asterix-Comics. Das macht ihn auf der einen Seite sympathisch - gerade in Corona-Zeiten, in denen sich viele Fans nach dem Fußball zurücksehnen, in dem Geld nicht alles war und Vereine noch Tradition und Seele hatten. Auf der anderen Seite aber steht die Tatsache, dass die glorreichen Zeiten der Bremer, in der sie Titel holten und zur Crème de la Crème der Bundesliga zählten, schon lange zurückliegen. Werder muss sich jetzt hinterfragen und weiterentwickeln, will der Verein sein sportliches Schicksal wieder selbst bestimmen, ohne auf Schützenhilfe angewiesen zu sein. Erst aber muss Werder Bremen die Relegation überstehen. Irgendwie.
Werder Bremen: Es war einmal... ein Spitzenteam
Lange Zeit war Werder Bremen ein Bundesliga-Spitzenklub. Die Grün-Weißen holten unter Otto Rehhagel, dann mit Thomas Schaaf viele Titel. Das ist lange her. Jetzt muss der der Klub zum zweiten Mal absteigen.
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Aufstieg mit Rekordbilanz
Nur ein Jahr nach dem Abstieg in die 2. Liga schafft Werder Bremen im Jahr 1981 den Wiederaufstieg. Angeführt vom 35-jährigen Ex-Nationalspieler Erwin Kostedde (l.), der mit 29 Treffern Torschützenkönig wird, stellen die Bremer eine beeindruckende Punktebilanz auf: 30 Siege, acht Unentschieden und nur vier Niederlagen.
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Der König auf der Bank
Aufstiegstrainer ist Otto Rehhagel (2.v.l.), der in den Jahren nach der Rückkehr in die Bundesliga gemeinsam mit Manager Willli Lemke ein Topteam formt. Die beiden "Macher" bleiben von 1981 bis 1995 bei Werder und holen in dieser Zeit viele Spitzenspieler und einige Titel nach Bremen.
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Torgarant Völler
Eines der sportlichen Aushängeschilder in den ersten Jahren nach dem Wiederaufstieg ist Rudi Völler. Als Zweitliga-Torschützenkönig von 1860 München nach Bremen gekommen, wird er in seinem ersten Bundesligajahr mit 23 Treffern auch im Oberhaus bester Torschütze. Bremen wird 1983, 1985 und 1986 Vizemeister. Völler macht in 137 Bundesligaspielen 97 Tore für Werder und wechselt dann 1987 nach Rom.
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Der Kutzop-Elfmeter
Richtig knapp ist es 1986: 33 Spieltage lang sind die Bremer Tabellenführer. Am vorletzten Spieltag kann das Team im Duell gegen den Zweiten, den FC Bayern, alles klar machen. Doch beim Stand von 0:0 schießt Michael Kutzop in der 88. Minute einen Elfmeter an den Pfosten. Am letzten Spieltag wird Bremen noch abgefangen. Der vergebene Strafstoß geht als "Kutzop-Elfmeter" in die Liga-Geschichte ein.
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Endlich Meister
1988 ist es so weit: Werder Bremen gewinnt die Deutsche Meisterschaft, die zweite nach dem ersten Titel von 1965. Otto Rehhagels Team ist eine gute Mischung aus jüngeren und sehr erfahrenen Spielern, wie dem 38-jährigen Stürmer Manfred Burgsmüller (mit Meisterschale). Mit nur 22 Gegentoren gewinnt vor allem die gute Abwehr diese Meisterschaft für Werder.
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Abwehrchef und Vorbild Bratseth
Wichtigster Spieler im Bremer Team ist damals der Norweger Rune Bratseth. 1987 an die Weser gewechselt, erlebt Bratseth als Abwehrchef die erfolgreichste Zeit der Bremer und gestaltet sie aktiv mit. Otto Rehhagel schätzt Bratseth aber nicht nur als Spieler, sondern auch wegen seines Charakters. Und weil er stets als fairer Sportsmann auftritt.
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Sieg im Europapokal
Zwischen den Meisterschaften von 1988 und 1993 sowie den DFB-Pokalsiegen 1991 und 1994 gelingt Werder 1992 auch ein Erfolg im Europapokal. Im Cup der Pokalsieger setzt sich Bremen im Finale gegen AS Monaco mit 2:0 durch. Die Tore zum ersten und bisher auch einzigen Europacup-Erfolg des SV Werder erzielen Klaus Allofs und Wynton Rufer.
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Erfolglose Zwischenzeit
1995 endet die Ära Rehhagel und damit auch die Zeit der Erfolge. Der Trainer wechselt zum Rivalen FC Bayern. Werder sucht nach einer neuen Identität und nach einem geeigneten Trainer, der in "König Ottos" Fußstapfen treten kann. Aad da Mos, Dixie Dörner (Foto) und Wolfgang Sidka scheitern. Der Klub ist nur noch Mittelmaß und kämpft 1999 sogar gegen den Abstieg.
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Retter-Duo Schaaf/Allofs
Der Erfolg stellt sich erst wieder ein, als kurz vor dem Saisonende 1999 Thomas Schaaf (l.) den Cheftrainerposten übernimmt. Mit Klaus Allofs (r.) ist damals seit einigen Monaten ein anderer Ex-Spieler von Otto Rehhagel Sportdirektor. Schaaf schafft die Wende: In den abschließenden drei Saisonspielen gelingen zwei Siege, Werder beendet die Spielzeit auf Rang 13.
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Rost als Elfmeterheld
Außerdem hat es Werder 1999 bis ins DFB-Pokalfinale geschafft. Dort wartet mit dem FC Bayern der große Favorit. Doch die Bremer halten bis zum Ende der Verlängerung ein 1:1-Unentschieden. Im Elfmeterschießen wird dann Torhüter Frank Rost zum Helden. Beim Stand von 5:4 hält er den entscheidenden Elfmeter von Lothar Matthäus und sichert Bremen den Pokal.
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Dauergast in der Champions League
Die Bremer entwickeln sich unter Schaaf und Allofs erneut zu einem Spitzenteam. In den nächsten Jahren ist Werder fast immer unter den Top-Drei der Bundesliga und damit Dauergast in der Champions League. Die Stars der Mannschaft sind Miroslav Klose (l.), Torsten Frings, Naldo, Diego und Per Mertesacker (r.).
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Double-Sieger
Die erfolgreichste Saison wird die Spielzeit 2003/2004. Bremen dominiert die Bundesliga und verliert insgesamt nur vier Spiele. Mit sechs Punkten Vorsprung vor dem FC Bayern gewinnt Werder seine vierte und bisher letzte Meisterschaft. Ailton (Foto) wird mit 28 Treffern Torschützenkönig. Und auch im Pokal setzen sich die Bremer durch: mit 3:2 gegen Zweitligist Alemannia Aachen.
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Der letzte Titel
Der Abschluss der zweiten Bremer Erfolgsära ist im Jahr 2009 einmal mehr der Sieg im DFB-Pokal. Mesut Özil erzielt im Finale gegen Bayer Leverkusen den entscheidenden Treffer zum 1:0-Sieg. Was damals noch niemand ahnt: Es wird vorerst der letzte Titel für die Bremer sein. Zwar wird man 2010 in der Bundesliga noch einmal Dritter, doch danach geht es auch hier abwärts.
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Absturz ins Mittelmaß
In den Folgejahren verpasst Werder immer wieder den Europapokal und gerät in einen Teufelskreis. Der Kader ist zu teuer, Stars müssen abgegeben werden. Doch ohne herausragende Spieler ist man mit den anderen Europapokal-Anwärtern nicht mehr konkurrenzfähig. Personell gibt es Veränderungen: Thomas Eichin (r.) löst Klaus Allofs als Sportdirektor ab, Robin Dutt (l.) wird Schaaf-Nachfolger.
Bild: Imago Images/Team 2
Neuanfang mit Stallgeruch
Die Erfolge bleiben aus, der Verein kommt nicht zur Ruhe. Bremen versucht daher, mit Personen zusammen zu arbeiten, die das "Werder-Gen" in sich tragen. Auf der Trainerbank folgt Ex-Spieler Viktor Skripnik (r.) auf Dutt. Ihm zur Seite stehen Torsten Frings (2.v.r.) und der heutige Cheftrainer Florian Kohfeldt (l.).
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Kurze Lichtblicke
Unter Skripnik-Nachfolger Alexander Nouri schafft Bremen in der Saison 2016/17 als Achter einen einstelligen Tabellenplatz. Das liegt vor allem an der guten Offensive, die vom Sturmduo Max Kruse (l.) und Serge Gnabry angeführt wird. Kruses Treffer sind es auch, die Bremen unter Trainer Florian Kohfeldt 2019 erneut auf Rang acht bringen - ein Punkt und vier Tore fehlen zur Europa-League-Teilnahme.
Bild: imago/Nordphoto
Gerade so durch die Relegation
Am letzten Spieltag der Saison 2019/2020 schafft Bremen mit dem 6:1 gegen Köln den ersten Bundesliga-Heimsieg seit 300 Tagen und rettet sich in die Relegation. Dort reicht nach einem 0:0 im Hinspiel gegen den 1. FC Heidenheim im Rückspiel ein 2:2, um weiterhin in der Bundesliga zu bleiben. "Sorry für die Scheißsaison", sagt Trainer Kohfeldt.
Bild: picture-alliance/gumzmedia/nordphoto
Schwächephase am Saisonende
2020/21 soll alles besser werden - wird es aber nicht, abgesehen vom DFB-Pokal, wo man das Halbfinale erreicht. Zunächst verliert die Mannschaft im Sommer mit Davy Klaassen kurz vor Transferschluss seinen Leader. In der Tabelle bewegt sich Werder im Mittelfeld und hat mit dem Abstieg im Grunde nichts zu tun. Doch gegen Ende der Saison reiht sich Niederlage an Niederlage und Bremen rutscht ab.
Bild: Cathrin Mueller/REUTERS
Kein Schaaf-Effekt
Nach 33 Spielen zieht der Klub die Reißleine und trennt sich von Kohfeldt. "Altmeister" und Werder-Ikone Thomas Schaaf soll den Klassenerhalt sichern. Doch im letzten Spiel gegen Mönchengladbach verlieren die Bremer mit 2:4 und werden von Konkurrent Köln überholt. Nach 40 Jahren steht damit der zweite Abstieg aus der Bundesliga fest.