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Ein Stinkefinger - einfach nur verständlich

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
18. August 2016

Vizekanzler Sigmar Gabriel zeigt Neonazis, die ihn anpöbeln, in Salzgitter den Mittelfinger. Der deutsche Vizekanzler, der SPD-Chef. Darf der das? Jens Thurau findet: Er darf.

Bild: Facebook/antifakampfausbildung

Zunächst einmal die Fakten: Sigmar Gabriel besucht vergangene Woche Salzgitter und wird dabei von pöbelnden Neonazis beschimpft: "Dein Vater hat sein Land geliebt. Und was tust Du? Du zerstörst es", rufen sie dem Chef der SPD zu. Dazu muss man wissen, dass Gabriels Vater, der erst vor wenigen Jahren starb, ein bekennender Neonazi war. "Bis zum letzten Atemzug", wie Gabriel das selbst beschrieben hat. Er drangsalierte die Familie, setzte durch, dass Gabriel als kleiner Junge bei ihm wohnen musste, als die Eltern sich trennten. Später, als der Sohn dann doch bei seiner geliebten Mutter bleiben durfte, ließ der Vater die Familie im Stich.

Gabriel wehrte sich schon als Jugendlicher, indem er sich in sozialdemokratischen Jugendorganisationen engagierte. Wer einmal mit dem Spitzenpolitiker in Israel war, weiß, wie die dunkle deutsche Vergangenheit den Vizekanzler umtreibt, politisch, persönlich, emotional.

DW-Redakteur Jens Thurau

Aber: Er ist auch Machtpolitiker und von Ehrgeiz getrieben wie viele andere auch. Kindheit und Jugend haben ihn jedoch entscheidend geprägt. Die Politik war ein Mittel, sich abzusetzen vom furchtbaren Vater. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für einen Politiker mit Haltung.

Mit Ecken und Kanten

Lange hat Gabriel zu seiner extrem schwierigen Familiensituation geschwiegen, erst vor wenigen Jahren vertraute er sich einem Journalisten der Wochenzeitung "Die Zeit" an, den er gut kannte. Erstmals berichtete er von den Qualen als Jugendlicher. Bei dieser Gelegenheit sprach Gabriel offen auch über seine Furcht, er könne durchaus Charaktereigenschaften seines Vaters geerbt haben. Seine Ungeduld, sein oft aufbrausendes Temperament. Es stimmt schon: Nicht immer hat sich der mögliche Kanzlerkandidat der SPD unter Kontrolle. Und jetzt der Mittel-, besser Stinkefinger, eine obszöne Geste, die durchaus eine strafbewehrte Beleidigung darstellt.

Alles in allem: Er darf das!

Trotzdem, ich finde, er darf das! Die bewusst extrem persönlich verletzenden Pöbeleien der Neonazis können ihn nicht kalt lassen, wie soll das gehen? Was würde es über einen Politiker mit einer Familiengeschichte wie der Gabriels aussagen, wenn er einen solchen Angriff auf seine Privatsphäre kalt lächelnd runterschluckt? Und wer weiß schon, wie oft er das bereits getan hat? Nach seiner Geste hat er alles gesagt, was dazu zu sagen ist: Er steht zu seiner Geste. Und "Das ist keine Form der Alltagskommunikation." Stimmt. War ja auch nicht Alltag. Sigmar Gabriel hat Ecken und Kanten, und oft genug steht er sich selbst im Weg. Aber der Stinkefinger in dieser Situation ist einfach nur: verständlich.

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