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Politik

Ein tiefer Riss in Chinas System

7. Februar 2020

Der Arzt Li Wenliang ist tot. Er warnte früh vor dem Coronavirus, doch die Partei brachte ihn zum Schweigen. Sein Tod empört viele, denn er legte die Schwächen des autoritären Systems offen, meint Mathias Bölinger.

Bild: picture-alliance/dpa/M. Schiefelbein

Ein Arzt warnt vor einer mysteriösen Krankheit. Doch statt auf ihn zu hören droht man ihm und verbietet ihm über die Krankheit zu sprechen. Einen Monat später stirbt der Arzt an der Krankheit vor der er andere warnen wollte. Das Land befindet sich da bereits im Ausnahmezustand. Das Virus breitet sich immer weiter aus, bedroht die Menschen im ganzen Land.

Das klingt nach dem Plot für einen Katastrophenfilm. Doch es ist die Realität. Der Tod von Li Wenliang berührt die Menschen in China und er macht sie zornig. Selten wurden die Sozialen Netze in China so stark von einem Thema dominiert. Selten brachen sich Trauer und Wut so ungebremst Bahn in unzähligen Kommentaren im Netz. Die Empörung zieht sich durch weite Teile der Gesellschaft. Lis Tod hat eine tiefsitzende Angst und Unzufriedenheit freigelegt.

Machterhalt als Dienst am Volk

Die Kommunistische Partei lobt sich beständig selbst für ihre Fähigkeit Stabilität zu wahren. Sie stellt ihren Machterhalt als Dienst am Volk dar. Während die Welt voller Chaos und Verbrechen sei, sei das Leben in China sicher, suggeriert die Propaganda den Bürgern. Um diese Stabilität zu wahren nimmt die Partei den Bürgern Freiheiten und genehmigt sich ein nahezu unbeschränktes Arsenal an Unterdrückungsmaßnahmen. Diese reichen von unverblümten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Masseninternierung der muslimischen Minderheiten im Westen des Landes, über das Verschwindenlassen und die Folter von Dissidenten bis hin zu milderen Maßnahmen wie Repressionen am Arbeitsplatz oder Verwarnungen durch die Polizei. Eine umfangreiche und ausgeklügelte Zensur stützt das System. Und natürlich ein riesiger Überwachungsapparat, der darauf trainiert ist, Bedrohungen dieser Stabilität sofort zu erkennen.

Mathias Bölinger ist DW-Korrespondent in Peking

Als die ersten Krankenberichte in den Ärzteforen auftauchten, erkannten die Behörden schnell, welche Bedrohung ihrer Macht von dieser Krankheit ausgeht. Sie reagierten unverzüglich. Doch statt das Virus zu bekämpfen, bekämpften sie die Ärzte, die darüber sprachen. Sie verboten ihnen, zu dieser Krankheit etwas mitzuteilen und beschwichtigten die Öffentlichkeit. Das Virus breitete sich unterdessen ungehindert aus. Erst drei Wochen später reagierte die Regierung. In nie gekannter Weise riegelte sie riesige Gebiete mit Millionen von Menschen ab. Dem ganzen Land wurde ein weitgehender Stillstand verordnet. Es ist eine Machtdemonstration, eine Show, die dem Volk demonstrieren soll, dass die Regierenden alles tun, um sie vor der Krankheit zu schützen. Doch das Virus konnte die geballte Macht der Kommunistischen Partei bisher nicht stoppen.

Ein Arzt, kein Dissident

Li Wenliang war, nach allem was wir wissen, kein Dissident. Er war niemand, der den Kampf mit der Staatsmacht suchte. Er war ein junger Familienvater und Arzt, der ein Problem erkannte und Kollegen vor der Gefahr warnte. Er tat das, was man von einem verantwortungsbewussten Arzt erwartet. Aber er war eben auch jemand, der zu diesem Zeitpunkt mehr gegen die Ausbreitung des Virus tat als die Regierung. Seine Warnungen und die der anderen Ärzte, so empfinden es viele, hätten die Epidemie rechtzeitig eindämmen können, wären sie denn öffentlich geworden. Viele sehen plötzlich eine direkte Verbindung zwischen der fehlenden Meinungsfreiheit und einer bedrohlichen Krankheit. Es war die Macht der Kommunistischen Partei, Ärzte zum Schweigen bringen zu können, die die Menschen der Krankheit erst ausgeliefert hat.

Es gibt Beobachter, die bereits von Chinas Tschernobyl sprechen. Das Virus werde zur Erosion der chinesischen Diktatur führen, wie der anfänglich vertuschte Reaktorunfall das sowjetische System erschütterte, das wenige Jahre später unterging. Andere vergleichen Li Wenliang mit Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung den Arabischen Frühling auslöste. Das mag übertrieben sein. Mit der ihr eigenen Mischung aus Flexibilität und Skrupellosigkeit hat die Kommunistische Partei Chinas schon viele Bedrohungen ihrer Macht überwunden. Aber klar ist: Es hat sich ein tiefer Riss in Chinas System aufgetan.

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