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Politik

Erdogan und die Flüchtlingskinder

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
9. März 2020

Der Versuch des türkischen Präsidenten, die EU mit neuen Flüchtlingen zu erpressen, hat nichts mit den Kindern in den Lagern auf griechischen Inseln zu tun. Dort hätte die EU längst helfen können, meint Barbara Wesel.

Das Lager Moria auf Lesbos wurde für etwa 2000 Flüchtlinge eingerichtet - heute leben dort zehnmal sovieleBild: picture-alliance/AA/A. Mehmet

Welche höhere Eingebung die deutsche Regierungskoalition jetzt dazu veranlasst hat, die Aufnahme einer Zahl von Flüchtlingskindern aus griechischen Flüchtlingslagern zu beschließen, ist unbekannt. Noch vor ein paar Wochen hatte Bundesinnenminister Seehofer genau das im Kreis seiner europäischen Kollegen noch rundweg abgelehnt: Deutschland mache nichts alleine, das müsse im Rahmen der EU passieren. Aber gerade dieser Minister ändert ja gerne mal seine Meinung.

Die Lage scheint sich geändert zu haben, nachdem die Fernsehzuschauer seit einigen Tagen wieder einmal in schockierte Kinderaugen an der griechisch-türkischen Grenze und in den notorischen Flüchtlingslagern schauen müssen. So ist das nämlich mit der Humanität - wenn keiner hinguckt, gibt es sie nicht. Die Lager auf den griechischen Inseln gibt es aber schon seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Sie begannen klein und galten damals als Übergangslösung. Fünf Jahre später sind sie zu ausgedehnten Slums herangewachsen, die jedem Dritt-Welt-Land Schande machen würden.

Niemand in Europa fühlt sich zuständig

Seitdem wird immer wieder über die Zustände dort berichtet: Es gibt keine Heizung, keine Duschen, keine Toiletten, keinen Regenschutz, nicht genug Essen, keinen Unterricht. Die Hütten versinken in Schlamm und Abfällen. Die Hoffnungslosigkeit führt bei Kindern und Jugendlichen zu tiefen Depressionen. All das kann jeder nachlesen und nachschauen: Die Medien zeigen regelmäßig, unter welchen Bedingungen Menschen dort leben.

Barbara Wesel ist Europa-Korrespondentin in Brüssel

Aber irgendwie fühlte sich in den europäischen Hauptstädten niemand zuständig. Nachdem man Griechenland zum zentralen Endlager für Flüchtlinge auf der östlichen Mittelmeerroute erklärt hatte und mit der Türkei ein Rücknahmeabkommen abschloss, schien die Sache für die EU zunächst erledigt.

An diesen elenden Lagern aber ist der türkische Präsident Erdogan nicht schuld. So sehr er sonst das Etikett des schlechten Nachbarn, rücksichtslosen Autokraten und verantwortungslosen Polit-Pokerspielers verdient haben mag - die himmelschreienden Zustände im Lager Moria auf Lesbos hat er nicht zu verantworten. Da steht in erster Linie die griechische Regierung in der Verantwortung, die hier eine eigene Mischung aus bösem Willen, organisatorischer Unfähigkeit und bewusster Schlamperei demonstriert. Die gern genutzte Ausrede von der jahrelangen Schulden- und Wirtschaftskrise zieht hier nicht. Die EU hat hunderte Millionen Euro als Hilfsmittel nach Athen überwiesen, bietet direkte Unterstützung an und stellt aktuell weitere 350 Millionen zur Verfügung. Das sollte reichen, um den knapp 70.000 Flüchtlingen in Griechenland halbwegs vernünftige Lebensbedingungen zu bieten. Außerdem arbeiten zahlreiche Hilfsorganisationen in den Lagern und sorgen für ärztliche Versorgung, Kleidung und anderes. Aber machen wir uns nichts vor: Die elenden Bilder von Lesbos und anderswo sind gewollt. Denn sie sollen der Abschreckung dienen!

Aber abgesehen davon hat die EU hier umfassend und prinzipiell versagt. Aus Angst vor dem anwachsenden Rechtspopulismus verabschiedeten sich die Mitgliedsländer von Asyl- und Menschenrechten, und das Wort "Flüchtling" kam auf die rote Liste. Die Europäer benehmen sich seit Jahren wie Kinder, die sich die Hände vor die Augen halten, um ein Problem nicht mehr zu sehen. Wir können es nicht lösen? Dann tun wir so, als sei es erledigt!

Rettet endlich die Kinder!

Wenn jetzt also Humanität in einer kleinen Dosis in Deutschland wieder zugelassen sein soll - dann handelt endlich: Holt die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen da raus, selbst wenn sie älter als 14 Jahre, keine Mädchen und nicht krank sind. Solche künstlichen Einschränkungen dienen doch wieder nur der Abwehr. All das hätte man schon vor Jahren machen können - aber besser es geschieht jetzt als nie! Der tapfere Vorstoß einer Reihe von Bürgermeistern aus allen Teilen der Bundesrepublik hat vielleicht geholfen, die Neinsager in Berlin zu überzeugen, dass ein paar hundert Kinder die wohlhabende Industrienation Deutschland nicht in die Knie zwingen werden. 

Statt sich also stündlich über Präsident Erdogan und seine Erpressungsversuche an der türkisch-griechischen Grenze aufzuregen, sollten deutsche Politiker in den Spiegel schauen und sich angesichts ihrer eigenen Mutlosigkeit und Hartherzigkeit schämen. Und vor allem: Verschont uns mit dieser unerträglichen Heuchelei. Natürlich, Herr Merz, kann man den Flüchtlingskindern in Deutschland besser helfen als auf den griechischen Inseln. Und wir hätten es längst tun müssen! Wer Bundeskanzler und Vorsitzender einer Partei werden will, die den Begriff "Christlich" im Namen führt, sollte doch irgendwie als Mensch kenntlich sein.

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