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Politik

Arabischer Frühling 2.0?

Sollich Rainer Kommentarbild App
Rainer Sollich
6. November 2019

Die anhaltenden Proteste im Irak und Libanon, aber auch schon zuvor im Sudan und in Algerien erinnern an den sogenannten Arabischen Frühling 2011/2012. Rainer Sollich fragt sich: Werden sie auch genauso scheitern?

Alles voller Demonstranten - der Tahrir-Platz in Bagdad am vergangenen Samstag Bild: Getty Images/AFP

Entmachtung von Alleinherrschern und korrupten Eliten, soziale Gerechtigkeit, ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Demokratie: Für diese Werte waren Bürger in vielen arabischen Ländern vor mehr als acht Jahren mutig auf die Straßen gezogen. Fast überall sind sie gescheitert.

In Syrien, Libyen und Jemen verwandelten sich die Volksaufstände in blutige Bürgerkriege, die Terror, Tod und Chaos über die Menschen brachten. Das kleine Bahrain ließ den Aufstand mit Hilfe von militärischen Hilfstruppen seines "großen Bruders" Saudi-Arabien niederschlagen. Und auch in Ägypten schlug das alte System erbarmungslos zurück: Das Militär putschte sich zurück an Macht, sogenannte "Sicherheitskräfte" richteten ein Massaker unter Anhängern der Muslimbruderschaft an. Wer heute in Ägypten den Mund aufmacht, lebt noch gefährlicher als 2011 vor dem Sturz von Ex-Machthaber Hosni Mubarak: Mehrere tausend Regierungskritiker sitzen wegen missliebiger Meinungsäußerungen hinter Gittern. Einzig in Tunesien - dem Geburtsland der arabischen Aufstände - hat es eine grundlegende Reform des Herrschaftssystems gegeben. Doch die sozialen Herausforderungen bleiben gewaltig, die politische Gesamtsituation höchst fragil.

Schiere Wut und Verzweiflung

Vor diesem Hintergrund mag der Mut erstaunen, mit dem sich im laufenden Jahr scheinbar plötzlich erneut zahlreiche Menschen in arabischen Ländern gegen die herrschenden Regime und Verhältnisse auflehnen. Doch der Mut der Menschen im Sudan, in Algerien, im Libanon und Irak folgt keiner übergeordneten Strategie. Er speist sich aus schierer Wut und Verzweiflung. Extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit und fehlende Entwicklungsperspektiven sind in fast allen arabischen Ländern ein erdrückendes Problem, für das die Herrschenden bisher keine Lösungen anbieten können. Ebenso sind Korruption und Vetternwirtschaft vielerorts tief in den Herrschaftsstrukturen verankert und führen im Alltag vieler Bürger zu Schikanen und handfester Benachteiligung. Es ist nur zu verständlich, dass Bürger sich dagegen auflehnen. 

DW-Redakteur Rainer Sollich

In vielen arabischen Gesellschaften brodelt es deshalb schon länger und immer wieder von Neuem gewaltig. Die Proteste sind hier nicht zuletzt ein Ventil, um Wut und Druck abzulassen. Sie haben aber auch schon zu durchaus bemerkenswerten Etappen-Erfolgen geführt, vor allem personeller Art: In Algerien und im Sudan mussten die langjährigen Despoten Abdelaziz Bouteflika und Omar al-Baschir endgültig ihren Platz räumen, im Libanon sah sich Premier Saad Hariri zumindest verbal zu einer Rücktrittsankündigung gezwungen, im Irak wackelt der Stuhl von Regierungschef Adel-Abdul Mahdi. Dennoch ist derzeit völlig unklar, wohin die neue arabische Protestwelle führen wird und ob sie eventuell auch noch weitere Staaten der Region erfassen könnte.

Neben den Chancen sind hierbei durchaus auch die Risiken zu sehen: Im Irak und im Libanon könnte der Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten missbraucht werden, um die bisher eher gemeinsam agierenden Konfessionen und Volksgruppen doch noch gegeneinander aufzuwiegeln. Für beide Länder wäre dies die Rückkehr eines Alptraum-Szenarios, das Extremisten und Terroristen neuen Auftrieb geben könnte. Der brutale Gewalteinsatz gegen Demonstranten im Irak ist schon jetzt besorgniserregend. In Algerien und im Sudan sind als Reaktion auf die wochenlangen Proteste zwar politisch durchaus vielversprechende Übergangsprozesse gestartet worden. Doch der Dialog zwischen Regierenden und Protestbewegung gestaltet sich in beiden Fällen zäh und das Ergebnis ist nicht vorhersehbar. Im besten Falle wird es zu Kompromisslösungen kommen. Im schlimmsten Falle könnten sich die Gegensätze aber auch wieder verschärfen. Die voraussehbaren Folgen wären noch größere Unzufriedenheit und Frustration.

Europas Nachbarregion kommt nicht zur Ruhe

Für Europa bedeutet dies: Die Nachbarregion Nahost wird auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe kommen und der Migrationsdruck von dort nicht nachlassen. Die EU kann hier allerdings in ihrer jetzigen Verfasstheit kaum mehr tun, als positive Dialogansätze wie in Algerien und im Sudan bestmöglich zu unterstützen und kritisch zu überwachen. Was sie hingegen unterlassen sollte, ist weiter auf "Partner" zu setzen, die vollmundig "Stabilität" versprechen, aber in Wirklichkeit mit harten Repressionen den sozialen und politischen Druck mutwillig immer weiter erhöhen, wie dies seit mehreren Jahren im Falle Ägyptens zu beobachten ist.

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