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PolitikEuropa

Europa, lass mir meine Sommerzeit!

Steiner Felix Kommentarbild App
Felix Steiner
30. März 2019

In der Nacht zum Sonntag wurden in Europa die Uhren wieder einmal um eine Stunde vorgestellt. Sommerzeit! Weil diese gute Tradition bald enden soll, hat Felix Steiner einen offenen Brief an die EU geschrieben.

Bild: picture-alliance/dpa/U. Baumgarten

Liebe EU,

so leid es mir tut - ich fühle mich verschaukelt von Dir. Eigentlich mag ich Dich sehr und halte Dich für wichtig. Für so wichtig, dass ich sogar an jeder Europawahl teilgenommen habe, obwohl ich weiß, dass das eigentliche Machtzentrum der EU der Rat ist - also die Runde der Staats- und Regierungschefs. Wie ich überhaupt noch keine einzige Wahl seit meinem 18. Geburtstag verpasst habe. Weil ich Wählen für das Königsrecht eines jeden Bürgers in der Demokratie halte.

Nun hast Du im vergangenen Jahr keine Wahl, aber eine sogenannte "Bürgerbefragung" veranstaltet. Via Internet durften wir kundtun, was wir von der zweimal jährlich stattfindenden Zeitumstellung halten. Na ja, habe ich mir gedacht, die EU hat anscheinend keine wirklichen Probleme. Und das Ganze erst einmal ignoriert.

Die Politik muss aus meiner Sicht nämlich gar nicht handeln, weil ich es gut finde, wie es derzeit ist: Ich freue mich auf die langen, hellen Abende im Sommer. Würde mich aber zugleich furchtbar quälen, wenn es im Winter erst um halb zehn Uhr morgens hell würde (und in der französischen Bretagne noch später).

Ich konnte nicht abstimmen!

Am letzten Abend der Befragung packte mich dann doch noch der Ehrgeiz und ich habe versucht, meine Stimme abzugeben. Aber das hat leider nicht funktioniert: Zwei Stunden lang habe ich immer wieder probiert, zu votieren - jedoch die Server waren nicht erreichbar. Das hat mich etwas irritiert. Denn wer in der Bundesrepublik lebt und aufgewachsen ist, der ist es gewohnt, dass die Stimmabgabe - egal bei welchem Anlass - kein Problem ist. Aber egal - so wichtig schien mir das Ganze ja nicht.

DW-Redakteur Felix Steiner

Das böse Erwachen kam dann ein paar Tage später: Denn kaum war das Ergebnis bekannt, kündigte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an, dass er gedenke, den Bürgerwillen umzusetzen. Wie bitte? Ich glaubte nicht recht zu hören! Welcher Bürgerwille? Richtig ist ja, dass das Ergebnis eindeutig war - mehr als 80 Prozent der Teilnehmer haben sich gegen die Zeitumstellung ausgesprochen. Aber war das auch repräsentativ? Pustekuchen: Nur 4,6 von mehr als 500 Millionen EU-Bürgern haben überhaupt mitgemacht. Und zwei Drittel der Abstimmenden waren Deutsche. Es ist ja richtig, dass wir Deutschen zahlenmäßig die größte Nation in der EU sind - aber so viele sind wir dann doch nicht.

Im Strafrecht gilt der Grundsatz: Was zum Zeitpunkt der Tat nicht strafbar war, dafür kann man später nicht bestraft werden. Im übertragenen Sinn muss auch in der Politik gelten: Aus einer Befragung, die als unverbindlich angekündigt wird, kann nicht plötzlich ein politischer Handlungsauftrag abgeleitet werden. Denn sonst hätten sich vermutlich noch vielmehr zufriedene Menschen wie ich am Online-Voting beteiligt.

Aber Jean-Claude Juncker will wohl zwanghaft so etwas Ähnliches wie Bürgernähe zeigen und macht Ernst: Bereits in der abgelaufenen Woche hat das Europäische Parlament dafür gestimmt, dass die Zeitumstellung in zwei Jahren Geschichte wird.

Wie beim Brexit

Dabei - sorry, dieser Vergleich muss jetzt einfach sein - erinnert mich das Ganze sehr an den Brexit: Teile der Bevölkerung machen riesigen Rabatz, vor allem in den Sozialen Medien. Und es gelingt ihnen, sogar eine Abstimmung zu kapern. Das Problem dieser überraschenden Mehrheit ist nur: Sie weiß allein, was sie nicht will. Was sie aber stattdessen will - da gehen die Meinungen ausweislich aller Umfragen ziemlich auseinander. Und es steht zu vermuten, dass die leichte Mehrheit zumindest in Deutschland, die neuerdings für eine dauerhafte Sommerzeit plädiert, sich noch nicht klar gemacht hat, was das im Winter eigentlich bedeutet.

Liebes Europa, Du wärst nicht die EU, wenn es nicht noch ein Hintertürchen und damit einen Ausweg gäbe: Das Parlament hat nämlich auch beschlossen, dass jedes Land selbst entscheiden soll, welche Zeit es künftig nutzen will. Und außerdem, dass es keinen Flickenteppich unterschiedlicher Zeitzonen geben soll. Genau das ist meine Hoffnung: Ihr einigt Euch nie! So wie eben auch das britische Parlament.

In diesem Sinne hoffe ich auf noch viele lange Sommerabende in Europas Gärten sowie auf den Terrassen und Balkonen der EU.

Herzlichst

Felix Steiner

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