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Politik

Europas steile Lernkurve

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
16. März 2020

Versagen an allen Fronten - das Virus hat die Regierungen und Institutionen der EU ins Chaos gestürzt. Absprachen und Solidarität blieben auf der Strecke. Überfällig, dass sich das jetzt ändert, meint Barbara Wesel.

Straßensperre in der Lombardei Ende Februar - die EU verdrängte damals noch das Geschehen in ItalienBild: picture-alliance/Photoshot

Rette sich wer kann - das schien zum Beginn der Corona-Krise das Motto der europäischen Regierungen. Unkoordiniert führte jeder irgendwelche Maßnahmen ein, ohne die Nachbarn auch nur darüber zu informieren. Das Ergebnis war ein Durcheinander von Vorschriften und Ratschlägen. Es entstand ein Bild von Kontrollverlust auf nationaler und vor allem auf europäischer Ebene. Auch die EU-Kommission in Brüssel hat erst jetzt verstanden, dass es hier um den Kern ihrer Glaubwürdigkeit und um die Zukunft Europas geht.

Als erstes blieb - wie immer in Krisenzeiten - die Solidarität auf der Strecke. Italien, das zuerst und am schwersten von der Corona-Krise getroffene Land, musste die bittere Erfahrung machen, dass ausgerechnet die starken deutschen Nachbarn erst einmal die Ausfuhr von medizinischem Material stoppten. Das führte zu Recht zu massivem Krach unter den EU-Gesundheitsministern. Es war ein Bild von jämmerlichem nationalem Egoismus angesichts der bereits erkennbaren Probleme südlich der Alpen. 

China nutzt Europas Fehler bereits aus

Frankreich hat sich übrigens ähnlich verhalten, so dass Paris und Berlin direkt die Tür öffneten für eine Propagandaaktion der Chinesen, die publikumswirksam Ärzte und Material nach Italien einfliegen ließen. Die politische Botschaft an alle Anti-Europäer und populistischen Zweifler hieß also: Wenn es ernst wird, ist sich jeder selbst der Nächste. Wieso kam niemand in Brüssel oder Berlin auf die Idee, in Rom anzurufen und Hilfe anzubieten? Die Medien haben in allen Einzelheiten über die Not in den italienischen Krankenhäusern, die Notmaßnahmen und die menschenleeren Straßen berichtet. Sage also keiner, er hätte nicht gewusst, was dort vorgeht.

Barbara Wesel ist Europa-Korrespondentin in Brüssel

Erst jetzt hat die EU-Kommission eine gemeinsame Beschaffung von medizinischem Gerät auf den Weg gebracht. Erst jetzt finden tägliche Videokonferenzen etwa der Gesundheitsminister und regelmäßige Kontakte von Regierungschefs statt, damit sie ihre Pläne wirklich austauschen und koordinieren. Bisher haben alle nur vor sich hin gewurstelt – vermutlich nach bestem Wissen und Gewissen, aber immer mit Blick auf die eigenen Wähler.

Dabei ist eines vollkommen klar: Es wird uns in Europa entweder gemeinsam gelingen, den Coronavirus einzudämmen und die wirtschaftlichen Folgen der Krise aufzufangen, oder wir werden getrennt daran scheitern. Die spontanen Grenzschließungen sind ein solches Beispiel. Ein Sprecher in Brüssel formulierte diplomatisch: Es gebe Zweifel an deren Nutzen, weil das Virus längst überall in der EU sei. Alles, was man damit bewirkt, sind endlose Lkw-Staus und ein Stocken des Warenverkehrs. Will man einzelne Regionen bewusst abriegeln, muss das richtig organisiert werden, so dass Güter zur Versorgung der Menschen dort und notwendige Arbeitskräfte weiter zirkulieren können.

Der Binnenmarkt darf nicht zusammenbrechen

Wenn nämlich der europäische Binnenmarkt zusammenbricht, dann kommt es wirklich zu Engpässen in den Supermärkten. Und dann stehen die Regierungen wie Lügner da, die bisher schwören es gebe reichlich Nachschub und keinen Grund für Hamsterkäufe. Der Rückfall in nationales Denken und Eigennutz innerhalb der längst fiktiv gewordenen Grenzen mag eine Art konditionierter politischer Reflex sein. Er mag auch weniger kluge Wähler beruhigen, aber in der Sache erreicht man damit genau das Gegenteil. 

Das gleiche gilt für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung: Wenn soziale Isolierung, das Schließen von Restaurants, Läden, Schulen und so weiter von den meisten EU-Regierungen jetzt für richtig gehalten werden, dann nützen sie am besten, wenn sie abgestimmt eingeführt werden. Je großflächiger die Ausbreitung des Coronavirus in Europa verlangsamt werden kann, desto besser die Chancen für die nationalen Gesundheitssysteme.

Gemeinsam Handeln oder untergehen

Der Rückfall ins nationale Denken endet spätestens bei den wirtschaftlichen Folgen: Europa ist längst dermaßen verflochten, dass wir die drohende Rezession nur gemeinsam bewältigen können. Und es ist keine Option, zum Beispiel Italien untergehen zu lassen - auch der verbohrteste Nationalist muss das verstehen. Zusammen ist Europa der stärkste Wirtschaftsblock der Welt und kann die Politik in den nächsten Monaten entscheidend formen. Jedes Land für sich ist hingegen nur ein Tropfen im Ozean.

Alle haben in den zurückliegenden Wochen versagt, nicht rechtzeitig reagiert und nicht verstanden, wie groß diese Krise werden würde. Die Lernkurve ist derzeit steil und wir können nur hoffen, dass die Regierenden auf nationaler und europäischer Ebene die Botschaft gehört haben. Verschwendete Zeit können wir uns angesichts der rasanten Ausbreitung des Coronavirus nicht mehr leisten, jetzt zählt jeder Tag.

Als Mittel gegen die Angst kann die Politik bisher nur die Vernunft und den Zusammenhalt setzen. Und das ist kein moralischer Appell, sondern eine zwingende Aufforderung zu gemeinsamem Handeln. Es ist klar, dass die Welt nach Corona nicht mehr dieselbe sein wird wie vorher. Aber noch haben wir es in der Hand, ob wir sie überhaupt wiedererkennen.

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