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Politik

Europas verpasste Chancen

Journalistin Christina zur Nedden
Christina zur Nedden
27. März 2020

Die Bürger Europas zahlen für die späte Reaktion ihrer Regierungen auf die Corona-Pandemie mit persönlicher Freiheit und heftiger Rezession. Dabei hätte Europa von Singapur lernen können, meint Christina zur Nedden.

Die Skyline von Singapur bei NachtBild: picture-alliance/robertharding/Ed Rhodes

Die Ausbreitung des Coronavirus hat die Welt auf den Kopf gestellt: Demokratische und "freie" europäische Länder wie Österreich sperren ihre Bürger ein und erwägen, sie zu überwachen. Demgegenüber genießen Bürger in "autoritären" asiatischen Staaten wie Singapur in den vergangenen Wochen ironischerweise mehr Freiheit als jeder Westeuropäer.

Trotz enger wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Verbindungen zu China ist es Singapur gelungen, die Zahl der Corona-Fälle gering und das öffentliche Leben nahezu davon unberührt weiterlaufen zu lassen. Hätte Europa hingesehen, hätte es von Singapur lernen können:

Was ist Singapurs Geheimnis?

Trotz seiner Verwundbarkeit als dicht besiedelter globaler Knotenpunkt hat Singapur bis Freitag dieser Woche nur 422 akute Corona- und zwei Todesfälle zu verzeichnen. Das neuartige Virus tauchte kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest im Februar auf und hätte für den winzigen Stadtstaat katastrophale Folgen haben können. Doch trotz des Risikos, den wirtschaftlichen Beziehungen zu seinem drittgrößten Handelspartner zu schaden, verhängte Singapur bereits am 1. Februar Einreisebeschränkungen gegen Passagiere aus China. Dies geschah entgegen des Ratschlags der WHO, dass Reiseverbote zu diesem Zeitpunkt nicht notwendig seien.

Christina zur Nedden ist freie Jornalistin, war den Februar über in Singapur und ist jetzt in WienBild: Kristina Kast

Dennoch hatte Singapur bis Mitte Februar über 80 Covid-Fälle zu verzeichnen, die höchste Zahl außerhalb Chinas. Singapur handelte schnell, indem es Kranke isolierte und jeden mit Grippesymptomen und Lungenentzündung testete. Die Kontaktpersonen der Infizierten wurden mit Hilfe von "contact tracing" ausfindig gemacht und in Quarantäne gebracht. Die Methode wurde während der SARS-Epidemie 2003 entwickelt und funktioniert, indem die Kontaktdaten aller Menschen beim Betreten jeglicher Gebäude akribisch aufgezeichnet und Infizierte genauestens befragt werden, wo sie sich in jüngster Zeit aufgehalten haben und mit wem sie in Kontakt waren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Erfolg Singapurs bei der Bewältigung des Coronavirus-Ausbruchs auf vier grundlegende Faktoren zurückzuführen ist: die frühzeitige Schließung der Grenzen, eine rigorose Kontaktverfolgung, viele Tests - und SARS als makabre Generalprobe. Dank dieser Maßnahmen konnte das öffentliche Leben ganz normal weitergehen. Restaurants, Einkaufszentren, Schulen und Büros sind bis heute geöffnet. Hongkong und Taiwan haben trotz ihrer geografischen Nähe zu China ähnliche Erfolgsgeschichten vorzuweisen.

Fehlt es Europa an SARS-Erfahrung?

So schrecklich das auch klingt - es hätte wahrscheinlich geholfen. Dass Europa nicht frühzeitig und effektiv auf die sich ausbreitende Pandemie reagiert hat, war eine Folge eurozentrischer Arroganz und unkoordinierter Bemühungen, lokale Unternehmen zu schützen. Obwohl die europäischen Staats- und Regierungschefs bereits im Dezember von dem Virus wussten, wurde er lange Zeit unterschätzt und als "asiatisches Problem" betrachtet.

Alles, was Singapur richtig gemacht hat - die frühzeitige Schließung der Grenzen, umfangreiche Tests und die Rückverfolgung von Kontakten - haben die europäischen Länder falsch gemacht. Um Österreich als Beispiel zu nehmen: Flüge aus China, dem Iran und Italien wurden erst am 9. März gestoppt. Die Angst, der lokalen Wirtschaft durch Reiseverbote zu schaden, hielt die Regierung lange Zeit davon ab, rigorose Maßnahmen zu ergreifen.

Eines der Zentren des Ausbruchs in Europa, das Skigebiet Ischgl, brauchte ganze acht Tage, um auf bestätigte Fälle von Touristen aus Island zu reagieren und die Bars, Ski-Lifte und Hotels zu schließen. Dann wurden alle Besucher hastig und ohne sie vorher zu testen nach Hause geschickt, wodurch sich das Virus in ganz Europa weiter verbreitete. Die Testkapazitäten in Europa sind rar, trotz der langen Zeit, die Regierungen hatten, um sich vorzubereiten. Selbst medizinisches Personal hat nicht ausreichend Zugang zu Tests, und dieser Engpass löst einen weiteren Mangel an Ärzten und Pflegern aus, die unter Umständen in Quarantäne müssen, während sie tagelang auf ihre Ergebnisse warten.

Persönliche Freiheit fällt zum Opfer

Eine rigorose Kontaktverfolgung à la Singapur ist in Europa undenkbar, und die Chance etwas Ähnliches zu veranlassen wurde verschlafen. Stattdessen haben Regierungen die strengsten Maßnahmen zur Einschränkung der persönlichen Freiheit seit dem Zweiten Weltkrieg verhängt. Anstatt herauszufinden, wer infiziert ist, und diese Personen dann effektiv zu isolieren, befinden sich nun die Bürger vieler Länder in einem unwirksamen Zustand der Halb-Isolation. Es gibt immer noch viele Berührungspunkte zur Übertragung der Krankheit, weil es keine Möglichkeit gibt herauszufinden, wer infiziert ist. Gleichzeitig wird die persönliche Freiheit auf ein Minimum reduziert, die Wirtschaft steht still, und die Mobilfunkanbieter geben Bewegungsdaten an die Regierungen weiter, ganz im Gegensatz zu dem, was uns in der Datenschutz-Grundverordnung der EU versprochen wurde.

In Zukunft

Diese Krise ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Krise der Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen - von der späten Reaktion bis hin zu Auswirkungen auf die persönliche Freiheit. Wir dürfen von unseren Staats- und Regierungschefs erwarten, dass sie sowohl unsere Gesundheit als auch unsere Freiheit sichern. Wenn diese Krise vorbei ist, müssen wir analysieren, wie es soweit kommen konnte und was wir von Singapur hätten lernen können.

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