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Politik

Die Revolution ist ausgeblieben

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
27. Mai 2019

Die etablierten Volksparteien schrumpfen. Grüne und Liberale legen zu. Die Rechtspopulisten ebenfalls. Das Europaparlament wird bunter, Kompromisse und Mehrheiten zu finden nicht gerade einfacher, meint Bernd Riegert.

Bild: picture-alliance/AP Photo/F. Seco

Die Schicksalswahl, die vor allem die großen Parteien der Mitte ausgerufen hatten, ist entschieden. Eine Dreiviertel-Mehrheit der EU-Wählerinnen und -Wähler stimmt nach wie vor für pro-europäische Parteien. Die Machtübernahme durch Rechtspopulisten im Europäischen Parlament bleibt ein unrealistisches Versprechen, an das nur der Anführer der rechten Nein-Sager, der italienische Innenminister Matteo Salvini, selbst geglaubt hat. Das liberale Demokratiemodell der EU hat vorerst gewonnen, wenn auch mit regional sehr bedenklichen Akzenten.

In Frankreich wurden die Rechtspopulisten zum zweiten Mal in Folge bei einer Europawahl stärkste Kraft. In Italien triumphiert Salvini. In Ungarn sind die Rechtspopulisten längst Staatspartei. In Polen verlieren sie zwar ein wenig, bleiben aber stärkste Kraft. Schlechter als erwartet gingen die rechten EU-Gegner aus unterschiedlichsten Gründen in Deutschland, Österreich, Dänemark, den Niederlanden und Spanien durchs Ziel. Insgesamt hält sich der Zuwachs im Europäischen Parlament in gerade noch erträglichen Grenzen. Da es den Nationalisten nicht gelingen wird, sich in einer Fraktion zu organisieren, werden sie die Arbeit des Parlaments behindern, aber nicht verhindern können.

Gewichte verschieben sich, aber die Pro-Europäer bleiben stark

Eine Schicksalswahl war die europäische Entscheidung für die Umwelt- und Klimaschutzpolitiker. Eine grüne Welle schwappte durch Teile der EU und beschert den Grünen einen unerwarteten Zuwachs. Ihre Fraktion wird höchstwahrscheinlich größer als die der Rechtspopulisten um Salvini - ein großer Erfolg. Offenbar haben Klima-Demonstrationen und streikende Schulkinder viele Wählerinnen und Wähler unter 30 Jahren mobilisieren können - allerdings nur in Teilen Westeuropas, vor allem in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Finnland. In Ost- und Südeuropa spielen Grüne und Umweltpolitik à la Greta Thunberg, der schwedischen Aktivistin, keine Rolle.

DW-Europakorrespondent Bernd Riegert

Das Schicksal hat auch mächtig an die Tür der etablierten Parteien der Mitte, der sogenannten Volksparteien, geklopft. Beide Blöcke, Christdemokraten und Sozialdemokraten, schrumpfen so kräftig, wie Grüne und Liberale auf der anderen Seite zulegen. Mehrheiten lassen sich im Europäischen Parlament jetzt nicht mehr nur von den angeschlagenen Großparteien organisieren. Mindestens die Liberalen und vielleicht auch die Grünen werden gebraucht. Das wird sich schon am Dienstag beim Sondergipfel der EU auswirken. Dann wollen die Staats- und Regierungschefs über die wichtigsten Personalentscheidungen sprechen. Die einfache Formel - der Spitzenkandidat der größten Gruppe, nämlich der Christdemokraten, wird Chef der mächtigen EU-Kommission - gilt so nicht mehr. Schlechte Karten für den deutschen EVP-Fraktionschef Manfred Weber.

Aus deutscher Sicht ist besonders das Schicksal der Sozialdemokraten bemerkenswert. Sie gehen unter und liegen in Deutschland erstmals hinter den Grünen. In Europa gibt es aber auch den Gegentrend: In Spanien, Italien, den Niederlanden schneiden die Sozialdemokraten gut ab, was dazu führt, dass die Fraktion europaweit nicht mehr leiden muss als die Christdemokraten.

Die Reihe der nationalen Eigenheiten lässt sich lange fortsetzen. In Griechenland stürzt die linkspopulistische Regierung in eine Krise. In Österreich gewinnt der konservative Kanzler, obwohl er vor einem Misstrauensvotum steht. In Polen erwacht die bürgerliche Opposition wieder zum Leben.

Sammelsurium nationaler Eigenheiten

Die Schicksalswahl ist entschieden. Das übergreifende Ergebnis heißt: Weiter für Europa, aber mit einem fragmentierten Parlament. Viel mehr Wählerinnen und Wähler als erwartet haben sie beantwortet. Zwar ist eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent immer noch nichts, worauf man in einer Demokratie stolz sein könnte, aber sie ist immerhin die höchste seit über 20 Jahren. Getragen wurde der Anstieg von einer überdurchschnittlichen Mobilisierung in den großen Mitgliedsstaaten Deutschland, Frankreich, Spanien und Polen. Sogar in Großbritannien, wo diese Wahl wegen des anstehenden Brexits eigentlich völlig überflüssig war, ist die Beteiligung nicht auf Null gesunken, sondern im Gegenteil angestiegen. Die Wählerinnen und Wähler wollten ihrem Frust noch einmal Luft machen, schickten aber auch erstaunlich viele pro-europäische Liberale nach Straßburg.

Die EU bleibt also, was sie stets war: ein äußerst bunter, schwer durchschaubarer Haufen, der am Ende Kompromisse schmieden muss. Das ist ihr Schicksal.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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