Wann gab es zum letzten Mal eine Debatte in der deutschen Gesellschaft, die selbst Freundschaften auf eine harte Probe stellte, die Familien teilte, wo unter Kollegen erbittert gestritten wurde? Vielleicht waren es die ideologischen Schlachten in den 1980er Jahren um die NATO-Nachrüstung oder um die Kernkraft. Das ist gut 30 Jahre her. Selbst der Streit um die Bekämpfung der europäischen Staatsschuldenkrise verlief in Deutschland eher zahm, vielleicht weil sich die Deutschen kaum wirklich betroffen fühlten, abgesehen davon, dass sie seit Jahren keine Zinsen mehr auf ihr Erspartes bekommen.
Vielleicht seit dem Ende des Kommunismus vor 25 Jahren und bis vor wenigen Monaten herrschte in Deutschland insgesamt ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Er musste von niemandem herbeigeredet werden, er lag einfach in der Luft. Die Parteien rückten ideologisch immer weiter zusammen. Die Gesellschaft schien weitgehend mit sich im reinen.
Verbreitete Konfliktscheu
Jetzt ist plötzlich durch die Flüchtlingsfrage eine Schärfe da, die viele überrascht. Dabei findet die Diskussion eher im Privaten statt. Es gibt diejenigen, die leidenschaftlich für die Aufnahme von noch mehr Zuwanderern eintreten und auch bereit sind, sich persönlich um sie zu kümmern. Es gibt andere, die vor den möglichen Folgen, vor einer Überforderung und Überfremdung Deutschlands, warnen. Die einen werfen den anderen Hartherzigkeit vor, mitunter auch Rassismus. Der Gegenvorwurf lautet vor allem Naivität. Beide Seiten sind zutiefst von ihrer Haltung überzeugt. Und es gibt diejenigen, die gar nicht reden wollen, sondern Flüchtlingsheime anzünden.
Es sind wohl vor allem diese Anschläge und die fremdenfeindliche Hetze im Internet, die dazu führen, dass ein Großteil von Politik und Medien eine grundsätzliche Diskussion über mögliche Grenzen der Flüchtlingsaufnahme scheut. Niemand will indirekt für Gewalt gegen Flüchtlinge verantwortlich gemacht werden. Der Tenor in Politik und Medien lautet, so wie es ja auch die Bundeskanzlerin gesagt hat: "Wir schaffen das." Und: Beim Grundrecht auf Asyl gebe es "keine Obergrenze." Beide Aussagen fassen die deutsche Flüchtlingspolitik zusammen - und sie ergeben sehr weitreichende Konsequenzen.
Gefährliches Wunschdenken
Gerade wegen der langfristigen Folgen der politischen Haltung - weil sie alle Bürger und sogar spätere Generationen betreffen - muss die Diskussion unbedingt geführt werden: Was ist, wenn der Zustrom über Jahre anhält oder vielleicht noch stärker wird? Wenn sich die anderen Europäer auf Dauer weigern, ähnlich großzügig wie Deutschland Menschen aufzunehmen? Beides ist wahrscheinlich. Was ist, wenn Integration nicht in dem Maße gelingt, wie wir uns das erhoffen? Die Fragen müssen gestellt, und es muss darüber geredet werden, ohne dass der Fragesteller sofort in den Geruch rechtsradikaler Gesinnung kommt.
Es wäre gefährliches Wunschdenken, solche unbequemen Fragen zu unterdrücken und sie den Extremisten zu überlassen. Vielleicht stellt sich die gewaltige Fluchtbewegung wirklich als die große Chance für das Land heraus, als die sie die Optimisten sehen. Selbst dann kann es nicht schaden, vorher kritisch diskutiert zu haben. Aber selbst die Optimisten auf diesem Gebiet, zu denen Kanzlerin Merkel offenbar gehört, sprechen von der größten Herausforderung in Jahrzehnten. Es kann nicht sein, dass ein paar Kanzlerinnenworte ausreichen, um bei einem so großen Thema die Richtung vorzugeben. Führen wir alle die Debatte, vielleicht hitzig, aber sachlich, ohne dem anderen den guten Willen abzusprechen. Wenn sie nicht jetzt stattfindet, wann dann?