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Politik

Warten auf den großen Wurf

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
17. November 2019

Die Grünen machen im Moment wenig falsch. Sie streiten nicht, sie gewinnen Wahlen und erobern die Mitte der Gesellschaft. Aber die Bundestagswahl ist erst in zwei Jahren. Eigentlich zu spät, meint Jens Thurau.

Bild: Getty Images/AFP/I. Fassbender

Vor der Stadthalle in Bielefeld fasst ein großes Plakat zusammen, um was es bei den Grünen gerade geht: "Fast da. Aber noch lange nicht am Ziel", steht darauf. Genau so fühlt sich die Partei gerade. Drei Tage lang diskutierten die Grünen, leidenschaftlich und detailversessen wie immer. Aber ohne den erbitterten Flügelstreit früherer Zeiten. Denn die Grünen wollen jetzt - salopp gesagt - nichts mehr anbrennen lassen.

Fast da. In der Mitte der Gesellschaft, könnte man sagen. Stabil liegt die Partei in deutschlandweiten Umfragen seit Monaten schon bei 20 Prozent der Wählerstimmen, manchmal sogar darüber. Im Westen des Landes sind sie in vielen großen Städten längst Mehrheitspartei. Zuletzt haben sie aus dem Stand die Oberbürgermeisterwahl in Hannover gewonnen, wo die SPD seit Kriegsende immer vorn lag. Das Führungsduo Robert Habeck und Annalena Baerbock, seit Januar 2018 im Amt, wurde in Bielefeld klar an der Parteispitze bestätigt, mit Ergebnissen über 90 Prozent, Baerbock sogar mit 97,1 Prozent. Beide haben den Grünen neuen Schwung verliehen. Und nicht nur sie, alle Grüne machen klar: Sie wissen, dass sie vielleicht nach der nächsten Bundestagswahl Deutschland mitregieren werden, und sie haben damit kein Problem.

"Eine neue Ära beginnt"

In Bielefeld streiten sie nicht nur um den Klimaschutz, sondern sie fassen dezidierte Beschlüsse zur Wohnungs- und vor allem zur Wirtschaftspolitik. Hier bekennt sich die frühere Anti-Parteien-Partei klar zur Marktwirtschaft, wenn denn soziale und ökologische Grenzen eingehalten werden. Selbstbewusst formulieren sie ein mögliches Ende der Politik der "Schwarzen Null", sie sind bereit, Schulden aufzunehmen, um in Infrastruktur und Bildung zu investieren. Das allein ist gut zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl schon mal eine klare Kampfansage an den möglichen Koalitionspartner, die Konservativen. "Die Ära Merkel geht zu Ende, eine neue beginnt", ruft Robert Habeck den Delegierten zu. Wir sind da, wir haben uns vorbereitet, wie wollen, heißt das zusammen gefasst.

DW-Korrespondent Jens Thurau

Fast da, aber noch lange nicht am Ziel. In fast jeder Rede, bei jeder Diskussion wird auch deutlich: Die Grünen wissen, wie schnell die Euphorie wieder dahin sein kann. Schon einmal haben sie Deutschland mitregiert, zwischen 1998 und 2005, und mussten schmerzhafte Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen, vor allem, als die Beteiligung der Bundeswehr beim Kriegseinsatz im Kosovo die Partei fast auseinander riss. Die Zeiten haben sich geändert, damals kamen die Grünen auf nicht einmal zehn Prozent der Stimmen, heute sind sie doppelt so stark. Dennoch: Nach dem Triumph bei der Europawahl mit über 20 Prozent im Mai waren die Wahlen in drei ostdeutschen Ländern eher ein Rückschlag. Die Grünen sind immer noch eher eine West-Partei.

Die Mitte der Gesellschaft

Der vielleicht größte Unterschied zwischen damals, als die Grünen mitregierten, und heute ist, dass die Grünen sich jetzt ganz selbstverständlich als in der Mitte der Gesellschaft stehend definieren. Beim Thema Rechtsextremismus und Antisemitismus ruft Habeck in den Saal: "Wir sind die Verfassungsschützer!" Ein Satz, der früher Tumulte ausgelöst hätte auf Grünen-Parteitagen. Ja, die Grünen verteidigen das Grundgesetz, die offene Gesellschaft, die soziale Marktwirtschaft. Sie fühlen sich als Anwalt der großen Mehrheit im Land, die sich Sorgen macht um Demokratie, Zusammenhalt und ja: auch um das Klima. Aber eben nicht nur.

Noch nicht am Ziel: Womöglich kommt der grüne Höhenflug auch zu früh, noch sind es fast zwei Jahre bis zur Wahl. Auch das haben die Grünen schon oft erlebt: Als Könige der Umfragen schnitten sie bei tatsächlichen Wahlen eher schlecht ab. Und vielleicht steht ihnen vor der Bundestagswahl noch Streit in Haus: Im Wahlvolk findet Robert Habeck große Zustimmung als möglicher grüner Kanzlerkandidat, aber intern, in der Partei, hat Annalena Baerbock die Nase vor. Das zeigt ihr für grüne Verhältnisse eigentlich fast schon unanständig gutes Ergebnis bei der Wiederwahl. Das beste, das je bei Vorstandswahlen bei den Grünen erzielt wurde. Noch weichen Habeck und Baerbock bei der Frage nach der Spitzenposition beharrlich aus, lange geht das nicht mehr.

Am besten wäre es für die Grünen, wenn jetzt Wahlen wären in Deutschland. Dem ist aber nicht so. Und deshalb heißt das Motto: Nerven behalten, keine Fehler machen, um dann (vielleicht) die ganz große Ernte einzufahren.

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