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Gesellschaft

Danke für die Vielfalt!

Kommentarbild Kateri Jochum PROVISORISCH
Kateri Jochum
12. November 2017

Was tun, wenn das eigene Geschlecht nicht in die Norm passt? Diesen Menschen hat das Bundesverfassungsgericht jetzt einen neuen Weg geöffnet. Vor dem Hintergrund ganz persönlicher Erfahrungen begrüßt Kateri Jochum das.

Bild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

"Kinder, die mit einem nicht eindeutigen Geschlecht zur Welt kommen, behandeln wir als medizinischen Krisenfall. Wichtig ist, dass wir den Eltern innerhalb von 24 Stunden eindeutig sagen können, welches Geschlecht ihr Kind hat - Junge oder Mädchen. Es wäre undenkbar, sie in der Ungewissheit zu lassen, dass ihr Kind intersexuell ist."

So sagte es mir eine Ärztin an der Berliner Charité vor genau 20 Jahren, als ich mich zum ersten Mal mit dem Thema Intersexualität beschäftigt habe. Als junge Studentin drehte ich damals einen Dokumentarfilm. Der Film "Intersexed", das Porträt zweier intersexueller Menschen, lief auf Filmfestivals als einer der ersten zum Thema in Deutschland. Allerdings ohne Auszüge jenes Interviews, welches das Geschlecht allein in schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, unterteilte. Denn die Aussagen empfanden meine ProtagonistInnen und ich damals wie heute als zutiefst menschenunwürdig. In dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht uns sowie den vielen intersexuellen Deutschen endlich Recht gegeben.

Es ging allein um die Norm

Was war so verwerflich an den Aussagen dieser Ärztin? Natürlich wollen Eltern, deren Kinder mit gesundheitlichen Problemen geboren werden, stets nur das Beste für ihren Nachwuchs. Doch es geht bei der Diagnose "Intersex" nur in den wenigsten Fällen um das gesundheitliche Wohlergehen des Kindes. Vielmehr dreht sich es um die Anpassung eines Kinderkörpers an eine gesellschaftliche "Normalität", für welche die Ärztin vor 20 Jahren nur zwei gültige Antworten kannte: Junge oder Mädchen. Schwarz oder weiß.

DW-Autorin Kateri JochumBild: Privat

So filmten wir damals die Passagen in schwarz-weiß, in denen unsere ProtagonistInnen von ihren Erfahrungen berichteten, sie der Norm anzupassen. Das hieß für Heike, dass sie als Junge erzogen wurde - denn als Kind hatte sie einen Mikropenis und Hoden, die später aufgrund des Krebsrisikos entfernt werden mussten. Es wurde massiv Testosteron verabreicht, um den Penis wachsen zu lassen. Unsere zweite ProtagonistIn Michel wurde zunächst als Junge, dann aber bald als Mädchen ins Familienbuch eingetragen. Menschen mit kompletter Androgenresistenz wie er haben in der Regel äußere Genitalien, die weiblich aussehen, allerdings keine Vagina, Gebärmutter oder Eierstöcke, weil ihre Chromosomstruktur männlich ist. Eine Klitoris, die man als "zu groß" erachtete, wurde damals bei den Neugeborenen "verkleinert". Die Beschneidung weiblicher Geschlechtsorgane - von der deutschen Schulmedizin sanktioniert! Als gäbe es eine DIN-Norm für Genitalien.

Für Heike und Michel hatte dies zur Folge, dass sie ihre Kindheit oftmals in Krankenhäusern anstatt auf Spielplätzen verbrachten. Und später ihre Jugend bei Psychologen. Denn der Versuch, sie in die schwarz-weiß Kategorie "Junge" oder "Mädchen" zu zwingen, belastete auch ihre Psyche.

Erst als sie den Befund "Intersexualität” in ihren Krankenakten lasen, verstanden sie, was eigentlich mit ihnen los war. Sie waren bunte Vögel in einer Welt, die keine Farben sehen wollte. Eine Welt, die ihre Existenz nur medizinisch anerkannte - aber von Geburt an alles tat, um ihre Federpracht auszurupfen, sie anzumalen oder unsichtbar zu machen. Das Urteil des obersten deutschen Gerichts berührt die elementarsten Menschenrechte. Und war deswegen schon lange überfällig.

Die Gene als einziges Kriterium?

Seit ich meinen Film gedreht habe, sind 20 Jahre vergangen - Jahre, in denen immer mehr Menschen sichtbar geworden sind, die nicht in die allein zweiteiligen Kategorien von Sexualität, Gender und biologisches Geschlecht hineinpassen. Das neue "dritte Geschlecht" in den deutschen Geburtsurkunden gilt primär den Intersexuellen, denn sie unterscheiden sich schon bei der Geburt "körperlich", sprich genetisch, chromosomal und hormonell, von Männern und Frauen. Bei Transgender-Menschen geht es hingegen um Geschlechts-Identität - das gefühlte, soziale Geschlecht. Sie werden zunächst nicht von dem Urteil berührt.

Doch wer sagt eigentlich, dass Gene wichtiger sind als Gefühle? Werden Hormone und Empfindungen nicht beide vom Gehirn gesteuert? Und ist unser Gehirn nicht auch Teil des Körpers? Wenn aber ein Gehirn die gesellschaftliche Konstruktion der Dualität von männlich und weiblich nicht akzeptiert, sich weder als das Eine oder das Andere empfindet - ist das nicht auch eine körperliche Reaktion?

Das Urteil von dieser Woche öffnet die Tür für eine gesellschaftliche Akzeptanz der bunten Vögel. Und dafür bin ich persönlich unglaublich dankbar. Denn inzwischen bin ich Mutter eines Transgender-Kindes. Ein Kind, das jetzt in einer Welt lebt, die mehr als nur zwei Geschlechter gesetzlich anerkennt - und akzeptiert, dass es einen ganzen Regenbogen an LGBTQI-Menschen gibt. Sie machen unsere Welt vielfältiger, farbiger und schön.

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