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Politik

Irrwege auf der Suche nach der deutschen Identität

28. Juni 2019

Der Bundestag hat das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert. Angeblich geht es um moderne Antworten auf neue Herausforderungen. Doch das Gesetz offenbart eine tiefe Identitätskrise in Deutschland, meint Zoran Arbutina.

Bild: picture-alliance/K. Willig

Nun ist sie also wieder da, die unsägliche Staatsbürgerschaftsdebatte. Die jüngsten, durch den Bundestag beschlossenen Veränderungen sind zweifellos dem aktuellen Zeitgeist geschuldet und ihre Befürworter versuchen sie als selbstverständlich darzustellen.

Und fürwahr, kaum jemand wird infrage stellen, dass Personen, die bei der Einbürgerung falsche oder unvollständige Angaben gemacht haben, die deutsche Staatsbürgerschaft auch zurecht wieder entzogen werden darf - ob nun bis zu fünf oder zehn Jahren später, das ist eher eine Geschmacksache.

Etwas problematischer ist es schon, dass künftig die deutsche Staatsbürgerschaft auch Menschen entzogen werden kann, die von Geburt an Deutsche waren. Da das aber nur für jene gilt, die im Ausland für Terrormilizen gekämpft haben und auch nur dann, wenn sie noch eine weitere Staatsbürgerschaft besitzen, wird selbst das noch von den meisten Bürgern des Landes mitgetragen.

Beabsichtigte Unschärfe?

Die dritte Veränderung hat es aber in sich: Einbürgert werden kann künftig nur, wer neben den bisherigen Voraussetzungen auch "seine Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse gewährleistet", insbesondere "dass er nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet ist".

Dass Menschen, die in Mehrehe leben, was in Deutschland ohnehin verboten ist, keine deutschen Staatsbürger werden sollen, liegt nahe. Hätte man aber nur das gemeint, hätte man es entsprechend formulieren können. Durch den Zusatz einer notwendigen "Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse" hat man absichtlich eine schwammige Bestimmung geschaffen, die unterschiedlichen  Auslegungen Tür und Tor öffnet.

Normalerweise versucht man bei neuen Gesetzen möglichst präzise zu formulieren, um den Interpretationsraum gering zu halten. Ein deutsches Sprichwort sagt, dass man vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand sei. Mit genauen Formulierungen will man die Versuchung der Justitia, Gott zu spielen, einschränken. Mit dem unscharfen Begriff "deutsche Lebensverhältnisse" im Gesetz schafft man aber das genaue Gegenteil.

DW-Redakteur Zoran Arbutina

Wiederbelebung der Leitkultur-Debatte

Es drängt sich nämlich die Frage auf: Was sind das eigentlich, die "deutschen Lebensverhältnisse"? Wie zeigt man, dass man sich "eingeordnet" hat? Indem man sonntags "Tatort" schaut? Oder vor Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft zur Hymne aufsteht und die richtige Strophe mitsingt? Auf keinen Fall ein Kopftuch trägt? Und wenn eine religiöse Kopfbedeckung, dann nur eine Kippa?

Mit diesem Gesetz wird die Diskussion über eine deutsche Leitkultur wiederbelebt. Aber auch vor dem Hintergrund der Wahlerfolge der rechtsnationalen Alternative für Deutschland (AfD) und der um sich greifenden Islamophobie wird diese Debatte nicht sinnvoller. Auch jemand, der deutsches Bier, gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot, NICHT gerne trinkt, kann ein guter deutscher Staatsbürger sein. Sogar diejenigen, die gar keinen Alkohol trinken. Und selbst dann, wenn aus religiösen Gründen darauf verzichtet wird.

Dem Zeitgeist geschuldet

Das Bestehen auf einer "deutschen Leitkultur" oder jetzt der "Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse" verleitet ja dazu, die Frage, wer eigentlich Deutscher sein kann und darf, ins Lächerliche zu ziehen. Klingt amüsant, ist es aber nicht. Denn die Frage der Staatsangehörigkeit ist eine ernste Sache. Lebensläufe können davon abhängen.

Jedes Gesetz offenbart durch seinen Wortlaut den vielbeschworenen "Geist eines Gesetzes". Und hier kommt kein guter Geist zum Vorschein. Ein Gesetz über das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft, das an sich etwas einladendes, etwas offenes und integratives ausstrahlen sollte, atmet den Geist der Abgrenzung.

Das passt zwar gut zu der aktuellen politischen und geistigen Stimmung in Deutschland, in welcher der Islam unter Generalverdacht steht extremistisch und undemokratisch zu sein, Flüchtlinge nur als Problem gesehen werden und die Begriffe wie "Willkommenskultur" oder "Gutmensch" längst Schmähworte geworden sind. Aber zukunftsweisend ist das alles nicht. Denn das Konzept der Ab- und Ausgrenzung ist ein Konzept aus alten Zeiten - und zwar nicht aus guten alten Zeiten.

Was wollen wir sein?

Die zentrale Frage ist nämlich nicht allein, wie man einen deutschen Pass erhält, der einem diverse Vorteile verschafft, sondern vielmehr: Wie sind "die Deutschen" eigentlich? Und wie wird man so, wenn man schon keine deutschen Eltern hat? Das Fabulieren über irgendwelche "deutschen Lebensverhältnisse" offenbart tiefe Unsicherheit bei der Beantwortung dieser Kernfrage der Identität.

Alte Gewissheiten (Tatort, Bier, Nationalhymne) gelten nicht mehr vorbehaltslos - um neue Antworten ringt man noch in der Gesellschaft. Was am Ende herauskommen wird, ist noch unklar. Den Geist der offenen und einladenden Gesellschaft sucht man im neuen Gesetz jedenfalls vergeblich. Und wer sich nicht willkommen fühlt, wird schwer Enthusiasmus für seine neue deutsche Identität entwickeln. Aber aller Abgrenzungsversuche zum Trotz können auch diese Menschen Deutsche  werden. Denn wie heißt es doch in §116 des Grundgesetzes: "Deutscher ist [...] wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt."

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