Kommentar: Japans Atomausstieg braucht Zeit
12. März 2013Versteh einer die Japaner! Haben die denn nichts aus der verheerenden Atomkatastrophe von Fukushima gelernt? So werden viele in Deutschland zwei Jahre danach kopfschüttelnd denken. Obwohl weite Gebiete um Fukushima auf Jahrzehnte unbewohnbar bleiben? Obwohl der Kraftwerksbetreiber TEPCO inzwischen verstaatlicht ist und jetzt die Bevölkerung für die Schäden aufkommen muss? Für Politik und Atomlobby ist die Schuldfrage geklärt: Versagt hat nicht etwa die Technik, sondern der Mensch. Schließlich haben Menschen Vorschriften missachtet und falsch reagiert. Die Technik aber habe eigentlich funktioniert.
Diese Logik der Kernkraftbefürworter ist einfach: Wenn man aus den Fehlern lernt und die Vorschriften beachtet, ja, dann sei die Kernkraft beherrschbar. Das ist auch das das Denken der japanischen Führung. Statt einer beherzten Energiewende im nationalen Konsens hält die neue Regierung der alten Köpfe weiter an der Kernenergie fest, ja sogar neue Reaktoren sind geplant. Versteh einer die Japaner!
Bittere Erkenntnisse
Aber so einfach ist es nicht. Die technikbegeisterten Japaner haben sehr wohl Lehren aus Fukushima gezogen. Aber es sind sehr bittere Erkenntnisse. Nüchtern müssen sie erkennen, dass sich das wirtschaftlich angeschlagene Japan einen Atomausstieg schlichtweg nicht leisten kann, will es mit dem vor Kraft strotzenden China mithalten. Und der Rivale hält unbeirrt an der Kernkraft fest - wie die anderen asiatischen Nachbarn und Mitbewerber auch. Für das rohstoffarme Japan aber sind die immensen Energieimporte auf Dauer zu kostspielig, Kohle aus Australien, Gas aus den USA, Öl aus dem Mittleren Osten und Südostasien. Außerdem könnte die neue Supermacht China diese lebenswichtigen Handelsrouten allzu leicht kappen. Eine berechtigte Sorge, wie die bilateralen Streitereien der letzte Monate zeigten. Das gegenwärtige Festhalten an der Kernkraft ist also kein blinder Fortschrittsglaube, sondern derzeit alternativlos.
In Deutschland sollten wir uns deshalb mit Vorwürfen und gutgemeinten Ratschlägen zurückhalten. Selbst Deutschland fällt die geplante Energiewende ziemlich schwer, trotz gesellschaftlicher Einigkeit. Da sind technische und politische Herausforderungen wie der Neubau von Stromtrassen, da sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen unvermeidlicher Strompreiserhöhungen. Aber verglichen mit Japans Problemen sind dies eher bescheidene Sorgen, die eine Solidargemeinschaft sicherlich meistern kann.
Vergleich mit Deutschland
Zudem ist Deutschland in einer relativ komfortablen Lage. Wenn hierzulande bei besonders hoher Nachfrage Strom fehlt, kann man Atomstrom beim Nachbarn Frankreich oder anderswo in Europa kaufen. Das Inselreich Japan aber kann sich nicht mal eben etwas beim Nachbarn leihen. Und was den Ausbau von alternativen Energieträgern betrifft: Das wird Jahre dauern. Große Offshore-Windparks sollen entstehen, was angesichts der schroff ins Meer abfallenden Küste und der regelmäßig übers Land fegenden Taifune sehr schwierig ist. Auch Japans Lage auf dem pazifischen Feuerring ließe sich durch zusätzliche Geothermie-Anlagen besser nutzen. Vor allem aber könnte Japan seinen exorbitanten Energieverbrauch durch Wärmeisolierungen und durch ein umweltbewußteres Verhalten signifikant reduzieren. Doch all dies wird nicht reichen, um die Versorgung der Megacities einer Hochtechnologie-Nation sicherzustellen. Noch nicht.
Zu den bitteren Erkenntnissen der Japaner gehört, dass sich eine über Jahrzehnte aufgebaute einseitige Atompolitik nicht einfach umsteuern lässt. Bis etwa 2040 wird es dauern, eine alternative Energie-Versorgung in Japan aufzubauen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bevölkerung diese Energiewende von den Regierenden beherzt einfordert. Dazu ist ein langer Atem nötig, auch wenn viele Japaner ihren Glauben in die Politiker längst verloren haben. Aber verglichen mit den Langzeit-Strahlenbelastungen der Kernenergie sind 30 Jahre doch ein überschaubarer Zeitraum. Das hochgiftige Plutonium hat eine Halbwertzeit von mehr als 24.000 Jahren, eine japanische Regierung hält gerade mal ein Jahr.