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Kanzlerdämmerung

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Felix Steiner
28. September 2015

Drei Wochen nach der völligen Öffnung der deutschen Grenzen für alle ankommenden Flüchtlinge ist laut Umfragen die Beliebtheit von Angela Merkel deutlich eingebrochen. Dabei wird es nicht bleiben, meint Felix Steiner.

Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Wiederholt sich Geschichte? Zumindest Parallelen gibt es zwischen Angela Merkel und zwei ihrer Vorgänger.

Parallele 1: Der Kniefall von Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Was heute als Synonym für die Entspannungspolitik der Regierung Brandt schlechthin gilt, war mitnichten geplant, sondern eine spontane Eingebung Brandts: "Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht."

Spontaner Impuls

Aus einem ähnlich spontanen Impuls hat Angela Merkel vor drei Wochen entschieden, die Flüchtlinge, die sich unter katastrophalen Bedingungen in Ungarn drängten, nach Deutschland einreisen zu lassen. Und genauso wenig wie Brandt hat sie sich vorab mit irgendjemand abgestimmt. Sie hat es einfach gemacht, weil ihr Empfinden - ihr Gewissen? - ihr sagte: So kann das nicht bleiben!

Was heute noch den wenigsten bewusst ist: Auch Willy Brandt wurde von den Zeitgenossen mitnichten nur gelobt. "Durfte Brandt knien?" fragte der Spiegel eine Woche später und lieferte das Ergebnis gleich mit: 41 Prozent der Bundesdeutschen fanden Brandts Geste angemessen, aber 48 Prozent übertrieben. Das positive Werturteil, die Einordnung als "historische Geste", fand also erst zeitlich verzögert statt. Fast genau ein Jahr später wurde Willy Brandt der Friedensnobelpreis verliehen. Auch das haben viele Deutsche im extrem aufgeheizten Streit um die Ostpolitik der Bundesregierung damals nicht verstanden, geschweige denn gut gefunden. Ob sich Angela Merkel Hoffnung auf einen Anruf aus Oslo machen kann?

DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Parallele 2: Die Agenda-Politik von Gerhard Schröder. Wer heute die Frage stellt, warum Deutschland ökonomisch so viel besser dasteht, als die meisten seiner europäischen Nachbarn, der wird unisono von allen Experten auf die Reformpolitik der Regierung Schröder zwischen 2003 und 2005 verwiesen. Millionen neuer Jobs sind seither entstanden, die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen sprudeln wieder. SPD und Grüne haben das Land damals vom "kranken Mann Europas" zur Wirtschaftslokomotive des Kontinents reformiert. Selbst Union und FDP, die zu solch einschneidenden Maßnahmen nie den Mut hatten, zollen Gerhard Schröder rückblickend Respekt.

Beifall von der falschen Seite

Schröders Tragik ist allein: Die Reformagenda kostete ihn das Amt und Angela Merkel erntet heute die Früchte seiner Arbeit. Denn alle, die die so genannte "Agenda 2010" loben, haben nie SPD gewählt und werden nie SPD wählen. Genau diese SPD hat jedoch die Politik ihres damaligen Vorsitzenden fast zerrissen und sie hat sich bis heute nicht wirklich davon erholt.

Wenn sich nun also vor allem in den Unionsparteien Unmut und Kritik gegen Angela Merkels Kurs in der Flüchtlingskrise regt, dann erinnert das fatal an die Situation der SPD vor genau zehn Jahren: Das Lob kommt parteipolitisch betrachtet leider von der falschen Seite. Die Stammwählerschaft der Union war es jedenfalls nicht, die an den Hauptbahnhöfen klatschend Flüchtlinge empfing!

Anzeichen der Krise bereits sichtbar

Gemeinsam ist beiden Parallelen: Sowohl die Kanzlerschaft Brandts und schneller noch die Schröders gerieten in die Krise. Krisen, die sich festmachten an internen Reibereien, herben Zitaten und provozierenden Auftritten, die jetzt wieder sichtbar werden: Die Einladung des Merkel-Kritikers Viktor Orban durch CSU-Chef Horst Seehofer war vergleichbar illoyal wie Herbert Wehners Aussagen in Moskau über Willy Brandt ("Der Herr badet gerne lau"). Und der "Basta-Kanzler" Schröder findet seine Entsprechung in Merkels Aussage in der Unions-Fraktionssitzung vom vergangenen Dienstag: "Ist mir egal, ob ich schuld bin am Zustrom der Flüchtlinge, nun sind sie halt da!" Ganz offenbar liegen inzwischen die Nerven blank bei ihr.

Alles Indizien nur. Doch während vor wenigen Wochen noch die SPD darüber diskutierte, wer gegen Angela Merkel die Wahl in zwei Jahren verlieren solle, scheint es nun - im Licht der Flüchtlingskrise - plötzlich so, als habe bereits die Kanzlerdämmerung der bisher mächtigsten Frau dieser Welt begonnen. Offen ist nur noch das Ende: Rücktritt in der laufenden Legislaturperiode (wie Brandt) oder Abwahl in zwei Jahren (wie Schröder)?

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