Kassandras Vermächtnis
Allzu oft war es plötzlich da in den vergangen Monaten: Das Unbehagen, ja die Angst, dass wir unaufhaltsam auf einen Abgrund zuschlittern. Einen Abgrund, gegraben aus Hass, Nationalismus und Lügen. An den Tagen etwa, an denen wieder Asylunterkünfte in Brand gesetzt wurden oder Menschen ihre blanke Wut in die Kameras skandierten. Oder aber an den Tagen, an dem erst die Briten und dann die Amerikaner für Abschottung und Ausgrenzung stimmten, unter dem Deckmantel der vermeintlichen Selbstbestimmung und des besseren "Managements" der Grenzen.
Das Unbehagen wurde weiter genährt aus den Kommentarspalten im Internet und den Sozialen Medien, in denen sich Menschen in Rage redeten gegen Flüchtlinge, Politiker und die Medien und überall Verschwörungen witterten. Aus den Umfragewerten der AfD, die gegen Fremde, Offenheit und Toleranz ins Feld zieht. Und nicht zuletzt aus dem Anschlag in Berlin. Die Liste ließe sich fortschreiben.
Raue Zeiten
Dieses Unbehagen nährt das flaue Gefühl: Gefährliche Umbrüche stehen bevor, wenn Menschen sich in Angst, Fremdenhass und Protektionismus zurückziehen, in einen "Wir gegen die"-Nationalismus, von dem wir dachten, dass er längst überwunden wäre, durch die Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts als gemeingefährliche Dummheit entlarvt.
Anders gesagt: "Wir leben in rauen Zeiten." So hat es Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Abschiedsrede formuliert, bevor in wenigen Wochen seine Amtszeit endet. Seine letzte Chance also, vor den Kameras, geladenen Politikern und anderen Würdenträgern zu mahnen und den Deutschen ins Gewissen zu reden. Gauck ist kein brillanter Redner, keiner der euphorisiert und mitreißt.
Aber er ist einer, der seine Worte mit Bedacht wählt, der die Finger in Wunden legt, der Ängste benennt und die richtigen Schlüsse zieht: Die nämlich, dass die Demokratie und auch unser Sozialstaat verteidigt werden müssen - und zwar entschlossen. Dass die Herausforderungen immens sind - sei es Populismus, Klimawandel oder digitaler Wandel. Dass Deutschland - und all denen, die an die Demokratie in ihrem besten Sinne glauben - nun mehr als je eine größere Rolle in der internationalen Politik, der Krisendiplomatie und der Verteidigung zufällt. Dass man reden muss, sich austauschen, um Lösungen zu finden.
Es braucht Mut
Nicht verzagen, lautet die Divise dessen, der selbst in einer Diktatur gelebt hat und daraus seinen unerschütterlichen Glauben an die Demokratie und deutsche Verfassung nährt: Wir schaffen das.
Doch dazu braucht es Mut - und mutige Politik. Politik, die sich gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und Populismus positioniert und gewagte, beherzte Antworten findet auf die Herausforderungen.
Indes macht der Blick in die Politik und auf die Politiker, die sich im beginnenden Wahlkampfjahr positionieren, wenig Hoffnung. Er hinterlässt vielmehr das Gefühl: Die Führungsriege täte gut daran, sich Gaucks Worte zu Herzen zu nehmen. Bevor die Abgründe immer tiefer werden.
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