Zunächst gab es ein wenig Verwirrung: Marco Reus und Timo Werner - beide nicht in der deutschen Startelf gegen die Niederlande - der erste wegen Oberschenkelproblemen, der andere wegen zuletzt schwächerer Leistungen. Stattdessen standen mit Leroy Sané und Serge Gnabry lediglich zwei Flügelstürmer auf dem Aufstellungsbogen. Wie sollte ohne einen zentralen Angreifer die derzeit wohl beste Innenverteidigung im Weltfußball erfolgreich überwunden werden?
Bundestrainer Joachim Löw setzte auf eine mutige Variante, ausgerechnet in dem Spiel und an dem Abend, an dem eine neue Ära eingeläutet werden sollte. Doch der Spielverlauf gab Löw Recht, denn die Niederländer taten sich schwer gegen die beiden flinken Spieler, die mit schnellen Vorstößen und für sie unorthodoxen Laufwegen - sehr viel zentraler als sie es normalerweise machen - immer wieder in die Gefahrenzone kamen.
Künftig immer mit zwei Stürmern?
Beide deutschen Angreifer erzielten vor der Halbzeit je einen Treffer und krönten damit den fulminanten Start des DFB-Teams in das so wichtige Match. Der Treffer von Sané war ein klassisches Knipser-Tor. Schön von Nico Schulz freigespielt, hatte Sané im Strafraum plötzlich mehr Platz als erwartet und schloss eiskalt ab. Gnabry dagegen lieferte eine spiegelverkehrte Kopie des klassischen Arjen-Robben-Tores: nach innen gezogen, Virgil van Dijk aussteigen lassen und den Ball unhaltbar für Torhüter Jasper Cillesen ins lange Eck gehoben.
Kein Zweifel: Die Angriffsleistung von Löws Team war hervorragend, insbesondere in den ersten 45 Minuten, und eine, die dem 59-Jährigen eine Menge Denkanstöße mit auf den Weg geben sollte. Denn Timo Werner fühlt sich offensichtlich nicht wohl in der Rolle als alleiniger Stoßstürmer. In Zukunft sollte daher immer mit einem System mit Angreifern gespielt werden.
Kimmich fehlt hinten rechts
Doch bevor die Analyse zu euphorisch wird: Insgesamt war es alles andere als eine großartige Leistung. Löws Entscheidung, mit Matts Hummels und Jerome Boateng zwei routinierte Innenverteidiger in den Ruhestand zu versetzen, wirkt im Lichte des Niederlande-Spiels wie eine schlechte. In der ersten Halbzeit stand Ryan Babel zweimal blank vor National-Keeper Manuel Neuer, der in höchster Not rettete. Und auch in der zweiten Halbzeit hatte die Defensive ihre Schwierigkeiten. Antonio Rüdiger und Matthias Ginter mögen auf Vereinsebene gute Spieler sein, die internationale Spitze ist aber über ihrem Niveau.
Auf dem rechten Flügel hatte der 22-jährige Thilo Kehrer den ganzen Abend zu kämpfen. Löw muss seine Strategie noch einmal überdenken, Joshua Kimmich im zentralen Mittelfeld einzusetzen. Der Bayern-Profi stellt hinten rechts ohne Frage Weltklasse dar. Kehrer tut das nicht, und Löws Verteidigung ist schon wackelig genug, auch ohne die "Beförderung" Kimmichs auf eine andere Position.
Die Probleme liegen hinten
Eine Mannschaft, die momentan keine große Anzahl von Spitzenspielern aufweist, sollte die wenigen, die sie hat, auch einsetzen. Ilkay Gündogan auf der Bank schmoren zu lassen, macht wenig Sinn. Deutschland gewann das Spiel, als der Profi von Manchester City anstelle von Leon Goretzka eingewechselt wurde. Löw muss sich mit seinem Mittelfeld auseinandersetzen und sollte genau überlegen, wen er am besten bringt, wenn er Deutschland wieder an die Weltspitze führen möchte.
Keine Frage: Der hart umkämpfte Sieg in Amsterdam bringt über die drei wichtigen Auswärtspunkte hinaus viele positive Erkenntnisse. Trotzdem wäre es fahrlässig von Löw zu glauben, die Wende sei damit bereits geschafft. Das größte Problem des Bundestrainers liegt in der Verteidigung. Die Defensivreihe hätte gegen die Niederlande die gute Arbeit der Stürmer fast wieder zunichte gemacht. Der Angriff dagegen sah vielversprechend aus und war die große taktische Überraschung, an einem dramatischen Fußballabend.