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Politik

Ein Kontinent ohne Solidarität

Thofern Uta 62 Latin Berlin 201503 18
Uta Thofern
29. Oktober 2019

Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Brasilien und natürlich Venezuela - Lateinamerika zeigt sich aktuell als Ansammlung von Krisenherden. Viele dieser Konflikte haben eine gemeinsame Ursache, meint Uta Thofern.

In Santiago de Chile brannten vor wenigen Tagen Linienbusse aus Protest gegen FahrpreiserhöhungenBild: Imago-Images/Aton Chile/J. Salvo

Politisch liegen Welten zwischenVenezuela und Chile, Bolivien und Brasilien. Was aber die Arroganz der Macht und die Ursachen für die teils gewaltsamen Proteste der jüngeren und jüngsten Vergangenheit betrifft, sind Gemeinsamkeiten sichtbar: In Lateinamerika gibt es kaum ein echtes und vor allem kein nachhaltiges Bemühen um sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich. Sichtbar ist vielmehr eine Tendenz zu entweder sozialistischer Verteilungs- oder (neo)liberaler Konsolidierungspolitik, die jeweils nur die eigene Klientel berücksichtigt und den politischen Gegner dabei gern abstraft oder zumindest missachtet.

Selbst Chile, das politisch noch am wenigsten polarisiert ist und am ehesten im Konsens geübt, zudem wirtschaftlich am besten dasteht, selbst Chile hat keine Politik des sozialen Ausgleichs geschafft. Die Gräben, die dort sichtbar geworden sind, liegen nicht zwischen politischen Lagern, sondern zwischen denen, die alles haben und denen, die mehr wollen, aber nicht bekommen. Die absolute Armut ist in Chile in den vergangenen Jahren drastisch reduziert worden, wie übrigens auch in Bolivien und Brasilien. Aber die neu entstandene Mittelschicht sucht jetzt weitere Aufstiegschancen, will echte Teilhabe, eine bessere Zukunft für ihre Kinder und vor allem keinen Rückfall in die Armut. Diese Bedürfnisse nicht erkannt und verstanden zu haben, bezeugt eine erschreckende Gleichgültigkeit der Wohlhabenden in Chile.

Bild: DW

Reine Umverteilungspolitik

Bolivien und Venezuela, aber auch Brasilien zu Regierungszeiten der Arbeiterpartei, haben sich auf reine Umverteilungspolitik beschränkt, ohne ernsthaft in Bildung, Infrastruktur und solidarische Versicherungssysteme zu investieren. Solange die Rohstoffpreise stimmten, konnte der Staat großzügig Subventionen an die ärmeren Schichten verteilen. Aber solche Wohltaten bleiben Almosen ohne eine gesetzlich verankerte gegenseitige gesellschaftliche Verpflichtung, wie es beispielsweise ein Generationenvertrag in einer anständigen Rentenversicherung wäre. Einen politischen Dialog darüber, der die wohlhabenden Schichten und ihre politischen Vertreter hätte einbeziehen müssen, gab es nicht. Stattdessen wurde die Opposition ausgegrenzt, das Verteilen von Wohltaten als Mittel zum Machterhalt missbraucht. Das Ergebnis ist zu besichtigen: Venezuela ist eine Diktatur, Bolivien und Brasilien sind heute auf unterschiedlichen Pfaden auf dem Weg dorthin.

Uta Thofern leitet die Lateinamerika-Programme

Argentinien pendelt seit Jahrzehnten zwischen den Extremen, ohne dass jemals ein echter Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zustande gekommen wäre. Die einzige Konstante ist der vvöllige Mangel an Bereitschaft, in das eigene Land zu vertrauen oder gar zu investieren. Bis heute legen die Argentinier, die Geld haben, dieses lieber in Dollar an als in der eigenen Währung - egal, wer gerade regiert.

Solidarität mit allen Mitbürgern, egal welcher gesellschaftlichen Schicht? Solidarität gar mit dem Staat oder wenigstens mit dem Land, in dem man doch gemeinsam lebt? Steuern oder Sozialabgaben zahlen für das Allgemeinwohl? Fehlanzeige! Die Devise ist: Nehmen, was man kriegen kann - und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten, fast überall. Die Steuersätze sind teilweise viel zu niedrig, die Zahl der Steuerzahler ebenfalls und das Bestreben, steuern zu vermeiden, zieht sich durch alle Bereiche der Gesellschaft - nicht zufällig ist der informelle Sektor in Lateinamerika so groß. Als Folge davon finanziert sich der Staat vor allem über die Verbrauchssteuern, was wiederum die Ärmeren umso stärker belastet. Uruguay ist vielleicht das einzige Land Lateinamerikas, das in der Steuergesetzgebung so etwas wie einen Ausgleich hinbekommen hat - obwohl auch dort der Konsens darüber bröckelt.

Spätfolgen der Kolonialzeit

Die Ursachen für das Misstrauen und die Verweigerungshaltung gegenüber der Gesellschaft sind vielfältig. Sie reichen von den andauernden Folgen der Kolonialzeit mit Ausbeutung und Rassismus über die unterschiedliche und beispielsweise in Chile höchst ungenügende Aufarbeitung von Diktatur oder von Bürgerkriegen wie in Kolumbien oder Peru. Hinzu kommt inzwischen überall die Polarisierung zwischen den verschiedenen Schichten und Gruppierungen, die durch die "sozialen" Netzwerke befeuert wird. Nicht zu vergessen die allgegenwärtige Korruption.

Ein spezifisch lateinamerikanisches Problem liegt auch darin, dass aufgrund der Diktaturerfahrung häufig keine oder nur die einmalige Wiederwahl von Politikern vorgesehen ist, was aber die Verantwortlichkeit von Politik stark eingrenzt, während gleichzeitig immer noch Präsidialsysteme die demokratische Kontrolle beschränken. 

Binsenweisheiten für den gesellschaftlichen Konsens

Lateinamerika hat einen Berg von aktuellen und überkommenen Problemen zu bewältigen, doch es sollte inzwischen klar sein, dass dies nicht ohne gemeinsame Anstrengungen, ohne gesellschaftlichen Konsens funktionieren kann. Dazu gehören ein paar Binsenweisheiten:

  • Nein, niemand ist durch seine Herkunft berechtigt, mehr Privilegien zu haben als andere. Ja, wer mehr arbeitet und mehr Verantwortung hat, soll auch mehr verdienen, solange er auch angemessen mehr Steuern zahlt.
  • Ja, jeder hat ein Recht auf Teilhabe und Weiterentwicklung. Nein, ohne Anstrengung und nur durch Umverteilung ist das nicht zu erreichen. Der Kuchen ist schnell aufgegessen, wenn niemand einen neuen Teig rührt - egal, wie groß oder klein die Stücke geschnitten werden.
  • Ein Staat, der keine angemessenen Steuern erhebt und eintreibt, versagt. Wer seine Steuern nicht bezahlen will, ist kein Bürger.
  • Kein Kompromiss ist auch keine Lösung.
  • Gewalt, ob gegen Menschen oder Dinge, ob staatliche Repression oder Vandalismus ohne Rücksicht auf Menschenleben, erzeugt Gegengewalt.
  • Dialog und Konsens, Maß und Mitte mögen langweilig klingen. Aber Lateinamerika würde etwas mehr davon gut tun.
Uta Thofern Leiterin Lateinamerika-Redaktionen, Schwerpunkt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
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