Ist es Feigheit vor dem Feind oder eine kluge Taktik? Vor dem Referendum in Großbritannien gehen die EU-Spitzen auf Tauchstation. Reisen in das uneinige Königreich werden vermieden. Der Letzte, der sich nach London gewagt hat, war der britische EU-Kommissar Jonathan Hill vor gut zwei Wochen.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich selbst einen Maulkorb verpasst. Er wolle "so stumm wie möglich" sein. Das gilt auch für den Rest der Brüsseler EU-Truppe. Zwar warnte auch der Präsident des Rates, Donald Tusk, dieser Tage noch einmal eindringlich vor einem Brexit, aber das geschah in sicheren Gefilden - in Brüssel bei einer Expertentagung.
EU - das peinliche Ding aus Brüssel
Die EU und speziell die EU-Kommission sind im nörgelnden Königreich extrem unbeliebt. Deshalb haben die Kommunikationsstrategen im Juncker-Team entschieden, sich möglichst unsichtbar zu machen. Es ist schon beschämend, dass sich die EU-Spitzen nicht einmal mehr trauen, für die eigene gute Sache zu streiten. Wie weit ist es mit der politischen Kultur gekommen, wenn schon ein öffentlicher Auftritt als Provokation gewertet wird? Selbst die Wahlkämpfer, die für einen Verbleib der widerborstigen Briten in der Union werben, wollen um Himmels Willen keine Unterstützung aus Europa.
David Cameron, der britische Premier, kämpft in den Fernsehauftritten, die jetzt auf der Insel anstehen, lieber alleine. Er gibt den einsamen Superhelden, der das böse europäische Ungeheuer gezähmt und den bestmöglichen Status für die von Brüssel geknechteten Briten heraus gehandelt hat. Zu diesem Unsinn würde natürlich der Auftritt der bösen Buben aus Brüssel - Juncker, Tusk und Parlamentspräsident Schulz - nicht passen.
Inzwischen wird die Debatte auf den sonderbaren Inseln mit so irrationalen Argumenten geführt, dass eine deutliche Ansage der EU wahrscheinlich kontraproduktiv wäre. Fakten stören nur. Trotzdem ist es von außen betrachtet schon sonderbar, dass die Europäische Union sich wegduckt, obwohl es doch um sie geht in dieser Volksabstimmung. Entscheiden sich die Briten für den Austritt, wird es heißen, die EU habe sich zu wenig engagiert oder vielleicht doch zu viel. EU-Kommissionspräsident Juncker hat es aufgegeben, diese Logik zu verstehen. Die Kritik an angeblicher Einmischung oder eben zu wenig Engagement sei ihm inzwischen "schurzpiepegal" ließ der Ur-Europäer wissen. Da schwingt Verzweiflung mit.
Muss man sich schämen?
Wenn sich der Staub nach dem großen Brexit-Knall am 23. Juni gelegt haben wird, wird man sich in Brüssel fragen müssen, ob es wirklich richtig war zu schweigen. Ist es nicht ehrlicher, seine Meinung zu sagen, auch ungefragt? Schließlich geht es doch um eine Schicksalsfrage für die Europäische Union - nicht nur um irgendeine innere Angelegenheit eines Landes.
"Habt mehr Mut!" möchte man den EU-Präsidenten zurufen. Klare Kante bitte! Die EU-Kommission ist stolz darauf, den Ausstoß an Regulierungsvorschlägen drastisch heruntergefahren zu haben, verglichen mit der Vorgänger-Kommission. Probleme und Konflikte werden gestreckt, vertagt, geschoben. Die EU-Mitgliedsstaaten, die auf dem Trip zur Re-Nationalisierung sind, werden geschont. Außer Polen. Da ging es aber auch nicht mehr anders, denn die Glaubwürdigkeit der EU steht im Streit um Rechtsstaatlichkeit auf dem Spiel. Das Megaprojekt der Juncker-Kommission, das Investitionsprogramm, kommt nicht in die Gänge. In Brüssel wird Beamten-Mikado gespielt: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Das hat auch mit dem Brexit-Drama zu tun, aber nicht nur.
Laut und aufrichtig für mehr Europa einzutreten, ist völlig out. Leisetreten ist angesagt. Selbst EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich, wie er selbst sagt, eine Zurückhaltung auferlegt, die man vom ihm eigentlich nicht gewohnt ist. Ist das am Ende das richtige Rezept, um Europa-Skeptiker zu überzeugen? Wer sich dafür schämt, was er richtig macht, kann wohl kaum begeistern.
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