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(Merkels) Flucht nach vorn

Marcel Fürstenau7. September 2015

Trotz mancher Misstöne haben sich die Koalitionsparteien auf Eckpunkte zur Eingliederung der Flüchtlinge geeinigt. Ob die Pläne langfristig gelingen, hängt mehr denn je von der Kanzlerin ab, meint Marcel Fürstenau.

Ein erwartungsfroher Flüchtling hält ein Foto von Angela Merkel hoch
Bild: Getty Images/AFP/C. Stache

Als es darauf ankam, hat Angela Merkel Führungsstärke bewiesen. Um die Odyssee tausender Flüchtlinge zwischen Ungarn und Österreich zu beenden, erlaubte die Kanzlerin deren unbürokratische Weiterreise nach Deutschland. Damit entlastete sie die Nachbarländer und belastete das Treffen des Koalitionsausschusses in der Nacht zu Montag.

Mit dieser mutigen Entscheidung demonstrierte die Christdemokratin, was sie vor Wochenfrist von ihren Landesleuten angesichts des Massenansturms verzweifelter Menschen gefordert hatte: Flexibilität. Merkel ging also mit gutem Beispiel voran und ahnte wohl schon, aus welcher Ecke sie dafür kein Lob erwarten durfte: von der Schwesterpartei CSU. Deren Protagonisten befürchten eine "Sogwirkung" und sprechen von "neuzeitlicher Völkerwanderung".

Die Bundeskanzlerin macht aus der Not eine Tugend

Diese Wortwahl mag in manchen Ohren polemisch klingen, nüchtern betrachtet ist sie aber sogar zutreffend. Was sonst spielt sich gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit ab, wenn hunderttausende Menschen ihre lebensgefährliche oder wirtschaftlich am Boden liegende Heimat verlassen? Dass Deutschland dabei trotz brennender Flüchtlingsunterkünfte auf die meisten Schutzsuchenden anziehend wirkt, ist kein Widerspruch. Es hat sich längst herumgesprochen, wie groß die Hilfsbereitschaft und Empathie der überwältigenden Mehrheit der Deutschen für die Neuankömmlinge ist. Von der ökonomischen Stärke und Anziehungskraft des Landes ganz zu schweigen.

Die in der Flüchtlingsfrage anfangs zögerliche Merkel hat sich entschieden, aus der Not (nicht nur der Flüchtlinge) eine Tugend im Interesse aller zu machen. Dafür nimmt sie manche verbale Spitze konservativer Berufspolitiker aus Bayern in Kauf. Beim nächtlichen Treffen im Kanzleramt gingen die schrillen Töne unter, weil sich Merkel des Beifalls der meisten anderen Beteiligten sicher sein darf. Länder und Kommunen erhalten drei Milliarden Euro zusätzlich vom Bund, der die gleiche Summe oben drauf legt. Sechs Milliarden mehr für Flüchtlinge sind ein starkes Signal.

DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel FürstenauBild: DW/S. Eichberg

Dass die Zahl der sogenannten sicheren Herkunftsländer für Asylbewerber ausgedehnt werden soll, ist Teil des Deals. Bei diesem Thema könnte die Kanzlerin noch am ehesten Probleme bekommen. Aber diesen Kompromiss musste sie im Interesse der besonders bedrohten Flüchtlinge und einer schnellen Lösung eingehen. Im Land selbst, allen voran in der bayrischen Landeshauptstadt München, wurden und werden die Flüchtlinge sowieso weiter mit offenen Armen und Herzen empfangen. Unter dem Eindruck dieser Bilder wirken die CSU-Maulhelden zwangsläufig wie Nörgler.

Zugpferd Merkel - in Deutschland und Europa

Allerdings sollte niemand den Fehler machen, die Bedenkenträger pauschal als kaltherzig zu stigmatisieren. Denn zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Flüchtlingen gehört weit mehr als eine großzügige humanitäre Geste zur Begrüßung. Die Sitzung des Koalitionsausschusses mit seinen ersten konkreten Ergebnissen war lediglich ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zu einer für alle auf Dauer erträglichen Lösung. Der angekündigte Flüchtlingsgipfel in gut zwei Wochen ist das nächste wichtige Etappenziel. Als Vorreiterin kommt nur Merkel infrage. In dieser Rolle wird sie noch oft die Flucht nach vorn antreten müssen - national und international.

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