1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Der Coup des Boris Johnson

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
2. Oktober 2019

Boris Johnsons Parteitagsrede war voller Scherze und der bekannten giftigen Rhetorik. Erstmalig machte er aber konkrete Vorschläge für den EU-Austritt, die einen Weg für eine Einigung ebnen könnten, meint Barbara Wesel.

Bild: picture-alliance/empics/P. Byrne

Auf jeden Fall war die Rede von Boris Johnson in Manchester unterhaltsam. Wie ein erfahrener Kabarettist weiß er, dass man das Publikum bei Laune und die Abstände zwischen den Witzen kurz halten muss. Also feuerte er sie reihenweise ab, alte wie den von Oppositionsführer Jeremy Corbyn in der Mondrakete und neue zur Fischerei in Schottland, in der Turbo-Finanzierung und der Turbot, der Steinbutt vorkamen. Und dann gab es noch einen Boris Johnson Spezial-Scherz über den Speaker des Unterhauses und Känguru-Hoden. So weit so außerordentlich lustig.

Man darf es bloß nicht Backstop nennen

Der Premier langweilte das Publikum dagegen nicht mit den Einzelheiten seines neuen Vorschlages für ein Austrittsabkommen mit der EU. Ein vager Umriss und ein paar martialische Sätze nach der Devise: "Dies ist das einzige und letzte Angebot" mussten genügen. Vielleicht wollte Johnson seinen Anhängern aber auch nicht zeigen, wie weit er tatsächlich bereit ist, sich zu bewegen. Die Details stehen nur in dem Schreiben nach Brüssel, das dort am Nachmittag eintraf.

Waren die Verhandlungen in Brüssel mit der britischen Delegation bisher ihren Namen nicht wert, legt der Premier jetzt erstmals etwas auf den Tisch, was potentiell einigungsfähig ist. Er greift den alten EU-Vorschlag vom Backstop nur für Nordirland auf, von dem Theresa May noch gesagt hatte, kein britischer Regierungschef könne je eine solche Ungeheuerlichkeit unterschreiben.

DW-Brüssel-Korrespondentin Barbara WeselBild: DW/G. Matthes

Boris Johnson aber ist nicht so zimperlich. Er schlägt vor, Nordirland in einer Art Sonderregulierungszone mit der EU halten.  Das heißt, Waren und Lebensmittel könnten weiter ungehindert über die unsichtbare Grenze in die Republik Irland transportiert werden, weil beide Seiten nach den gleichen Regeln arbeiten. Allerdings will Großbritannien die Zollunion verlassen, was Kontrollen irgendwo - möglicherweise hinter der Grenze - nötig macht. Der Teufel steckt hier im Detail, man sollte sich nicht zu früh freuen. Aber im Prinzip könnte auf dieser Basis vielleicht ein Kompromiss möglich sein und ein harter Brexit vermieden werden.

Die stalinistische nordirische DUP aber, die May noch das Leben zur Hölle machte,  hat Johnson wohl mit Parteitagschampagner und mit Bestechungsgeld gefügig gemacht. Für sie ist der Vorschlag interessant, weil sie danach alle vier Jahre über die Fortsetzung der Regelung in der Nordirischen Versammlung mit abstimmen dürften. Das erhöht ihre politische Bedeutung und sieht demokratisch aus. Für die EU und Dublin ist er relativ unschädlich, weil eine Mehrheit gegen das ökonomisch lebensrettende Verfahren in Nordirland kaum denkbar ist.

Wird es durch Boris Johnsons Vorstoße eine Einigung mit der EU geben?Bild: picture-alliance/dpa/PA/S. Rouseau

Auf dem Weg zum Brexit-Kompromiss

Boris Johnson hat verstanden, dass die meisten Briten - genauso wie seine Parteimitglieder - sich für Nordirland nicht interessieren. Die alten Konflikte und komplizierten politischen Kampflinien sind ihnen egal. Daraus nahm er sich die Freiheit, die alten Zwänge aus den Gesprächen mit Brüssel zu sprengen, wonach der Brexit gleiche Regeln überall in Großbritannien bringen müsste. Lasst sie doch abweichen, da oben im Norden, dem Premier ist das jedenfalls wurscht.   

Mit diesem Coup hätte Boris Johnson das Feld für die anstehenden Neuwahlen bestellt. Schafft er eine Einigung mit Brüssel und tritt das Land tatsächlich am 31.Oktober geordnet aus der EU aus, werden sie für ihn zum Triumph. Bei den dankbaren Briten wäre ihm eine Mehrheit sicher, denn nicht nur die Brexiteers sind froh, wenn sie den Alptraum zunächst hinter sich haben. Unterdessen führt er den Zoff mit dem Parlament weiter, indem er es erneut in eine Zwangspause schicken will. Dieses Mal allerdings nur so lang wie vom Obersten Gericht gestattet - eine Woche. 

Noch ist nichts in trockenen Tüchern

Das Land hat das Gezerre um den EU-Austritt satt und die Kompromissbereitschaft ist gestiegen. Das dürfte übrigens auch für das Parlament gelten. Welcher Abgeordnete würde am Ende Nein sagen zu einem erträglichen Abkommen, das zunächst das Brexit-Chaos vermeidet und die Folgen abmildert. Und darüber, dass der schwierige Teil erst später beginnt, wenn die EU und Großbritannien um ein Handelsabkommen ringen, schweigt man in London lieber. Sollen die Leute doch glauben, dass nach dem Brexit der goldene Regenbogen aufsteigt.

Boris Johnson aber macht hier möglicherweise aus seiner größten politischen Schwäche, seinem peinlichen und hemmungslosen Opportunismus, eine unerwartete Stärke. Denn mit leichter Hand wirft er hergebrachte Glaubenssätze über die institutionelle Verfasstheit Großbritanniens über Bord. Vielleicht braucht man dafür tatsächlich einen wie ihn: einen Mann ohne Grundsätze, der aber erkennt, dass er nur als Held des Brexit Wahlen gewinnen kann. Aber dennoch sollte man sich nicht zu früh freuen, denn noch ist nichts geschafft. Und das alles kann auch kurz vor Ablauf der Frist noch schief gehen. London hat aber nach langer Zeit den ersten möglichen Vorstoß gemacht, der beide Seiten in Frieden auseinander gehen lassen könnte.