Nationalismus macht unfrei
15. Mai 2014Den Ländern in der Region geht es um mehr als um Öl, Gas und reiche Fischgründe. Sie machen die Territorialansprüche im Süd- und Ostchinesischen Meer zu einer Frage der nationalen Ehre. Die Installation einer chinesischen Ölbohrinsel in umstrittenen Gewässern ist nur das jüngste Ereignis in einer langen Reihe von Zwischenfällen, das wieder einmal die gefährliche Nationalisierung in der Region illustriert.
Die staatseigene chinesische Ölbohrplattform HD-981 war Anfang Mai zu der vorgesehenen Position am Rande der umstrittenen Paracel-Inseln geschleppt worden. 80 chinesische Schiffe, darunter sieben bewaffnete, begleiteten sie. Bemerkenswert ist, dass der gewählte Standort der Plattform wenig Hoffnung auf reiche Rohstoff-Erträge macht - darin sind sich Experten einig.
China wollte also ein Signal an die Region senden: Wir lassen uns weder vom Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) noch von den Vereinten Nationen oder den USA etwas vorschreiben. China ließ sich bei der Installation der Bohrinsel nicht vom UN-Seerechtsübereinkommen beirren, und auch nicht von dem 2002 zwischen den ASEAN-Staaten und China vereinbarten Verhaltenskodex, der auf Dialog setzte und einseitige Veränderungen des status quo verhindern sollte. Auch Präsident Obamas Zusage, Japan und die Philippinen militärisch zu unterstützen, hat China offensichtlich wenig beeindruckt.
Vietnam reagierte umgehend auf Chinas Vorstoß. Küstenwachschiffe sollten die Installation der Plattform verhindern oder wenigstens verzögern. Dabei kam es zu mehreren Zusammenstößen und den Einsatz von Wasserwerfern. Sechs vietnamesische Seeleute wurden verletzt. Das Staatsfernsehen wiederholte die Bilder in Endlosschleife.
Am Wochenende (10./11.05.2014) genehmigte Hanoi dann antichinesische Proteste. Diese schlugen am Anfang der Woche im ganzen Land in Gewaltexzesse um. Die Demonstranten griffen wahllos chinesische oder vermeintlich chinesische Fabriken und Firmen an. Tatsächlich waren viele der verwüsteten Fabriken taiwanische oder südkoreanische. Scheiben wurden eingeschlagen, mindestens fünfzehn Fabriken gingen in Flammen auf. Zwanzig Menschen kamen bei den Ausschreitungen ums Leben. Hunderte Chinesen flohen nach Kambodscha.
Die nationalen Ressentiments in Ost- und Südostasien sind historisch gewachsen. Japan demütigte China und Korea mit seiner imperialen Expansion auf das ostasiatische Festland im Zweiten Weltkrieg. Wie jedes Mal empörte der Besuch des japanischen Premiers Shinzo Abe im Yasukuni-Schrein, in dem auch Kriegsverbrecher geehrt werden, im April 2014 China und Korea. Auch Vietnam und China sind seit Jahrhunderten Gegner. China betrachtet Vietnam zuweilen als ehemalige Provinz, der man "eine Lektion erteilen müsse". Noch 1979 kam es zu einem Grenzkrieg zwischen beiden Ländern mit Zehntausenden Gefallenen.
Trotz dieses schwierigen historischen Erbes haben alle Staaten der Region in den letzten Jahren den Nationalismus weiter befördert. China und Vietnam nutzen ihn, um die Herrschaft der Kommunistischen Partei zu legitimieren. Japan fürchtet den Aufstieg Chinas und damit einen Bedeutungsverlust. Der Nationalismus soll dieses Gefühl der Schwäche kompensieren.
Doch der Nationalismus hat seinen Preis. Die jüngste Eskalation im Zusammenhang mit der Bohrinsel zeigt, wie schwierig es ist, seine Dynamik zu kontrollieren. Er schränkt darüber hinaus die diplomatischen Möglichkeiten der Regierungen ein. Sie können nicht frei verhandeln, ohne im eigenen Land ihr Gesicht zu verlieren.
Sowohl China als auch Vietnam haben sich schlicht verkalkuliert. China hat nicht damit gerechnet, dass die Bohrinsel einen derartigen Widerstand auslösen würde. Die vietnamesische Regierung konnte sich nicht vorstellen, dass die Proteste so gewalttätig werden würden. Um ihre Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, müssen die Regierungen den Teufelskreis aus Patriotismus und Gewalt durchbrechen.