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Politik

Wir sind die Wendekinder

DW-Kommentarbild Linda Vierecke
Linda Vierecke
9. November 2019

Wie brachial der Wandel für die Menschen in Ostdeutschland war, merken wir erst jetzt, 30 Jahre nach der Wende, meint Linda Vierecke. Doch ihre Generation, die sogenannten Wendekinder, kann heute Brücken bauen.

Lesefibel aus dem ersten Schuljahr unserer Kommentatorin Linda ViereckeBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Stell dir vor, von einem auf den anderen Tag verändert sich dein gesamtes Leben: Deine Arbeit gibt es nicht mehr. Deine Qualifikation werden nicht mehr gebraucht. Die Werte, die gelten, sind plötzlich andere. Freunde gehen weg, weil es da, wo ihr lebt, eben keine Arbeit mehr gibt. Dein soziales Netzwerk zerfällt.

Ich stelle mir in diesen Tagen oft die Frage, was ein solcher Wandel wohl mit mir machen würde? Mein Vater war 36 Jahre alt, als 1989 die Mauer fiel. Genauso alt wie ich jetzt. Er war Physiker in einem Stahlwerk. Und nach der Wende hat er nie wieder einen richtigen Job gefunden.

Jede Familie im Osten hat solche Geschichten

Ich bin der Meinung, dass wir erst heute anfangen zu begreifen, wie massiv diese Wende für die Menschen im Osten war. Jede Familie im Osten hat solche Geschichten: von Männern und Frauen, die ihre Jobs verloren, von zig Umschulungen und neu zu erwerbenden Qualifikationen. Von Familien, die in den Westen gingen zum Arbeiten. Von anderen, die blieben. Von Alkohol, der Lücken füllte. Und von uns Kindern, die in ein System hineinwuchsen, in dem uns unsere Eltern keinerlei Hilfestellung geben noch irgendwelche Netzwerke anbieten konnten.

DW-Redakteurin Linda ViereckeBild: DW

Eine Zahl, die mich immer schockiert, ist diese hier: Die Geburtenrate nach der Wende brach im Osten um 50 Prozent ein! Stärker als nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg.

Und trotzdem hat die Politik lange so getan, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Unterschiede zwischen Ost und West verschwinden. Tun sie aber nicht, trotz 1,6 Billionen Euro staatlicher Hilfe, die inzwischen in den Osten geflossen sind.

Bis heute kann man Ost oder West an Zahlen ablesen: Die Menschen im Osten verdienen im Schnitt noch immer 17 Prozent weniger. Meine Mutter ist seit 43 Jahren Lehrerin. Ihre Rente wird dennoch erheblich geringer sein, als die einer Lehrerin im Westen. Ich finde das ungerecht. Im Übrigen auch für meine Generation, die von den Eltern deshalb erheblich weniger finanzielle Unterstützung erwarten darf.

Kaum Ostdeutsche in den Chefetagen

Niederschmetternd finde ich auch diese Zahlen: Ostdeutsche sind in den Führungsetagen in Deutschland kaum vertreten. Nur 1,7 Prozent der Top-Jobs sind von Ostdeutschen besetzt. Richterinnen, Unirektoren, Staatssekretärinnen - da wo Entscheidungen getroffen werden, entscheiden Ostdeutsche nicht mit. Und selbst in Ostdeutschland sind Entscheiderpositionen zum überwiegenden Teil auch 30 Jahre nach der Wende von Westdeutschen besetzt. Was auf Zeit gedacht war, um DDR-Kader zu ersetzten, hat sich verfestigt: Eine westdeutsche Oberschicht dominiert den Osten. Dieses Gefühl, das die Menschen im Osten haben, lässt sich mit nackten Zahlen belegen.

Auch so manche positive Erfahrung aus der DDR wurde nur wenig wertgeschätzt oder ist schlichtweg nicht bekannt. Ein Beispiel: Meine Mutter hat immer gearbeitet, genau wie alle Frauen, die ich kannte. Kinder haben und arbeiten, sich selbst verwirklichen - das war und ist für mich selbstverständlich. Meinen westdeutschen Freundinnen fehlt dieses Vorbild zumeist. Doch als Anfang dieses Jahres "100 Jahre Frauenwahlrecht" gefeiert wurde, waren die emanzipierten Frauen in der DDR nur eine Randnotiz. 

Osterfahrungen stärker in den Blick nehmen

Erst jetzt 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, zwingen uns die Wahlergebnisse, die Osterfahrungen wieder stärker in den Blick zu nehmen. Denn Ostdeutsche wählen auch anders: Hier ist die rechtspopulistische AfD doppelt so stark wie im Westen. Ich bin die Letzte, die das rechtfertigen will, denn für Rassismus und Ausgrenzung gibt es keine Rechtfertigung. Aber das Gefühl, nicht Teil zu haben an der Gesellschaft, ist nicht von der Hand zu weisen. Und wenn wir nicht wollen, dass sich ganze Regionen abkoppeln, müssen wir gegensteuern: strukturschwache Regionen entwickeln, Löhne endlich angleichen. Selbstverpflichtungsquoten in Unternehmen, um Ostdeutsche zu fördern und vor allem alles tun, um den sozialen Zusammenhalt zu bewahren.

Noch mehr aber als politische Zugeständnisse wünsche ich mir ein ehrliches Interesse des Westens am Osten: an den Erfahrungen, an den Brüchen, an den Nachwendegeschichten und an den Empfindungen heute.

Und für meine Generation? Als Geburtsjahrgang 1982 gehöre ich zur "dritten Generation Ost" - wir sind die Wendekinder. Wenn wir etwas gelernt haben, dann, dass nichts von Dauer ist, dass man sich stetig wandeln muss und dass man dabei alle mitnehmen muss. Nennen wir es Transformationskompetenz, die auch heute, da wir den digitalen Wandel durchleben, nicht unwichtig ist. Wir sind jetzt im idealen Alter, um Verantwortung zu übernehmen. Wann geht´s los?

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