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Politik

Noch einmal, mit Gefühl

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
17. Oktober 2019

Zum zweiten Mal hat die EU mit einer britischen Regierung ein Austrittsabkommen vereinbart. Und wieder ist unklar, ob das Parlament in London ihm zustimmt. Das Drama ist noch nicht vorbei, meint Barbara Wesel.

Bild: Reuters/F. Lenoir

Sie haben sich wieder einmal geeinigt, die EU und die britische Regierung. Und während im Königreich die Aufregung groß ist, herrscht in Brüssel das Gefühl des Déjà-vu. Denn genau an diesem Punkt waren wir schon einmal: vor einem Jahr mit Theresa May. Und wieder stehen die Chancen nicht gut, dass der Deal bei der nächsten Sitzung im Unterhaus durchkommt. Viele Abgeordnete haben Bedenken, weil sie in der EU bleiben wollen, oder wegen der künftigen Position Großbritanniens, das Boris Johnson viel weiter weg von Europa sieht als seine Vorgängerin. 

Viel Lärm um wenig

Auch im zweiten Durchgang war es wieder schwierig, sich zu einigen. Und es wurde überhaupt erst möglich, nachdem der irische Premier seinem britischen Kollegen eine kreative Lösung für das Irlandproblem nahegelegt hatte. Boris Johnson aber hatte verstanden, dass angesichts der politischen Gemengelage in London der Brexit für ihn nur mit einem Abkommen zu erreichen ist.

DW-Korrespondentin Barbara Wesel

Also machte er eine Kehrtwendung, vergaß sein dummes Geschwätz von gestern und warf die ganzen Nordirland-Unteilbarkeits-Bedenken unter den Bus, die Theresa May noch so vehement verteidigt hatte. Was jetzt vereinbart wurde, hat große Ähnlichkeit mit dem alten nordirischen Backstop, den die EU ursprünglich vorgeschlagen hatte, um eine harte Grenze auf der Insel zu vermeiden.

Dabei machten beide Seiten Zugeständnisse - die Briten ein paar mehr: Die EU ließ zu, dass die britische Provinz formal aus der Zollunion austritt. London wiederum musste schlucken, dass Nordirland faktisch weiter die europäischen Regeln einhalten muss, damit der Status quo auf beiden Seiten der Grenze erhalten wird. Dabei geht es übrigens nicht nur um Wirtschaft und Handel, sondern weit darüber hinaus um Identität, Zugehörigkeit und Alltag der Menschen in der Region.

Die Europäer und die Regierung in Dublin können mit dieser Lösung leben. Und die EU hat im Kleingedruckten, wie es ihre Art ist, genau aufgepasst, dass sie ihre Rechte auch durchsetzen kann. Alles in allem für Brüssel ein ziemlich guter Deal, der gleichzeitig Boris Johnson sein Triumphgeheul ermöglicht, dass er nun das ganze Königreich aus der EU führen werde und künftig die Kontrolle über alles wieder übernehmen könne. Das gehört einfach zur Brexit-Propaganda, egal wie wenig daran wahr ist. 

Zustimmung ungewiss

Ein Abkommen liegt also auf dem Tisch. Mit der Zustimmung im britischen Parlament aber sieht es derzeit nicht gut aus. Wenn die nordirische DUP nicht Ja sagt, weil ihr die Zugeständnisse zu weit gehen, dann könnte Johnson ein paar weitere Brexit-Hardliner verlieren. Ob er die Tory-Abgeordneten wieder gewinnen kann, die er vor kurzem im Übermut aus der Partei geworfen hat, ist zweifelhaft, und die Opposition ist mit wenigen Ausnahmen sowieso dagegen. Vielleicht gelingt Boris Johnson ja bis Sonnabend noch ein Wunder, sonst landet das Thema Brexit, das die EU so gerne endlich los wäre, schnell wieder auf dem Tisch in Brüssel.

Der Brexit-Streit ist nicht vorbei, im Gegenteil

Zu den vielen falschen Versprechen des Brexit gehört, dass er mit dem Austritt fertig sei. Viele Bürger in Großbritannien hoffen ja darauf: Lasst es endlich vorbei sein. Aber das ist ein Fehlschluss, denn danach geht es erst richtig los. Die so mühsam verhandelte Übergangszeit dauert nur ein Jahr. Wenn die Regierung in London sie nicht verlängert, kommt der Sturz in die Ungewissheit eben danach. Alle Aspekte des künftigen Verhältnisses müssen neu verhandelt werden - vom Flugverkehr über Genehmigungen für Lastwagen bis zur Zusammenarbeit in der Wissenschaft oder bei der Sicherheit.

Es ist also ein falscher Frieden, der den Briten jetzt vorgegaukelt wird. Vor allem die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen, mit dem Boris Johnson so wenig Integration wie möglich anstrebt, können bitter werden. Die EU hat gezeigt, dass sie nichts verschenkt. Die Briten aber müssen an der Wahlurne entscheiden, ob sie sich ihre Zukunft tatsächlich nach dem Modell "Singapur an der Themse" vorstellen, mit dem Abbau von Schutzrechten und einem deregulierten Finanzmarkt - oder nicht. Die Frage ist, ob sie ein rein neoliberal-angelsächsisches oder ein mehr europäisches Modell des Wirtschaftens und Lebens wollen. Noch haben sie die Chance, den Wettlauf nach unten abzusagen, den Boris Johnson auf seine Fahnen geschrieben hat.