Keine Stimmung, kollabierende Athleten, ökologischer Irrsinn: Die Leichtathletik-WM in Katar ist ein bitterer Vorgeschmack auf die Fußball-WM 2022 - und zeigt, wie der Sport dem Geld verfallen ist, meint Joscha Weber.
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Profisportler müssen so einiges abkönnen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit ihrer Leistung und alles was dafür nötig ist, wird eben getan. Sie trainieren bei Hitze, Kälte, im Regen, Schnee oder Hagel. Sie ordnen alles ihrem Ziel unter, nehmen Entbehrungen in Kauf. Wir sprechen also von einer kleinen Elite, die es gewohnt ist, Schmerzen auszuhalten und nicht zu jammern. Wenn sich Stimmen aus diesem Kreis erheben, heißt das also etwas. Ein "Desaster" sei diese WM, sagt der französische Zehnkämpfer Kevin Mayer, "respektlos" findet die weißrussische Läuferin Volha Mazuronak das Verhalten des Weltverbandes IAAF, "abartig" nennt der zurückgetretene deutsche Diskuswerfer Robert Harting die Bedingungen in Katar. Und die italienische Marathon-Läuferin Sara Dossena findet nach ihrem Hitzekollaps im Rennen nur ein Wort, um das zu beschreiben, was sie erlebt hat: "schrecklich". Die Leichtathletik-WM nach Katar zu vergeben, war ein Fehler. Ein Scheitern mit Ansage.
Vor der Hitze und ihren Auswirkungen auf die Athleten hatten viele Experten gewarnt, interessiert hat das kaum jemanden bei der IAAF. Während beim Marathon Sportlerinnen kollabierten und mit Rollstühlen weggefahren wurden, versuchten die Veranstalter Kameraleute zu hindern, dies zu filmen. Diese Bilder sollte die Welt besser nicht sehen. Stattdessen versprach Leichtathletik-Präsident Sebastian Coe, mehr Wasser zur Verfügung zu stellen. Welch ein Hohn. Und ein ökologischer Wahnsinn: In das Khalifa-Stadion wird mit aufwendiger Technik kalte Luft geblasen - und durch ein riesiges Loch im Dach kommt ständig neue heiße Außenluft hinzu. Der CO2-Fußabdruck der Wettbewerbe von Doha dürfte beispiellos in der Geschichte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften sein.
Es ist WM und kaum einer geht hin
DW Sportredakteur Joscha Weber fordert "mehr Athleten-Mitsprache, mehr Transparenz im Vergabeverfahren von Sport-Großereignissen"
Und das Schlimme: Das Spektakel interessiert kaum jemanden. Die Hälfte der Tribünen ist mit bunten Bannern überdeckt. Die Hälfte der sichtbaren Sitze ist leer. Mindestens. Manche Wettkämpfe finden vor einer Geisterkulisse statt. Dabei hat Katar nach Medienberichten sogar Bauarbeiter bezahlt, damit sie ins Stadion gehen. "Das soll hier wirklich eine WM sein?", fragt die britische Siebenkampf-Olympiasiegerin Denise Lewis zu Recht. Dass der stellvertretende WM-Chef Dahlan Al Hamad vor Beginn der Wettkämpfe noch versprach, "dass es immer voll werden wird", zeigt, wie dreist Katar versucht, sich ins rechte Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken.
Das politisch isolierte Land versucht seit Jahren, über den Sport Marketing zu betreiben. Arenen wurden gebaut, Ausbildungszentren eröffnet, Wettbewerbe an Land gezogen, Sportler eingebürgert. Alles mit dem Ziel, Katar für ein globales Publikum bekannter zu machen. Natürlich sollten Sport-Wettkämpfe auch in die arabische Welt vergeben werden, es ist ein legitimes Ziel, die Sportwelt ins eigene Land zu holen. Wenn dabei aber nur ein einziges Argument zählt (Geld), hat der Sport ein Problem.
Der Sport verkauft seine Seele an den Meistbietenden
Wenn Sportler Hitzepillen schlucken müssen und kollabieren, wenn Stadien leer bleiben, wenn Menschenrechte beim Bau der Arenen mit Füßen getreten werden, dann macht sich der Sport schuldig. Genauer gesagt: die Funktionäre, die die WM an Katar vergaben, obwohl die Bewerbungen von Eugene (USA) und Barcelona (Spanien) besser waren. Aber Katar bot offenbar mehr Geld. Dass der damals verantwortliche IAAF-Präsident Lamine Diack inzwischen in Frankreich unter Hausarrest steht, macht die Sache nicht besser. Denn es ist nur eines von vielen Beispielen, wie der Sport seine Seele verkauft. Ein weiteres Beispiel wird die nächste Fußball-WM. 2022 ist Katar Gastgeber und das, was wir derzeit in Doha erleben, ist ein bitterer Vorgeschmack auf das, was da in drei Jahren kommen wird. Und für eine Olympiabewerbung bringt sich das Emirat auch bereits in Stellung.
Das Dilemma: Längst funktionieren internationale Sportverbände nach marktwirtschaftlichen Regeln. Die Großereignisse sollen vor allem Wachstum und Einnahmen bringen. Alles andere ist sekundär. Speerwerfer Johannes Vetter hat einen Lösungsvorschlag: Er regt an, Events wie die Leichtathletik-WM "nicht nur zugunsten des Geldes" zu vergeben, sondern auch nach der Meinung der Athleten. Der richtige Gedanke. Mehr Mitsprache, mehr Transparenz im Vergabeverfahren von Mega-Events, und der Sport hätte viele Sorgen weniger.
Große Hitze und neugierige Kameras - die Probleme der Leichtathletik-WM
Athleten und Mediziner hatten es schon vor der Leichtathletik-WM in Katar befürchtet: Die große Hitze macht den Sportlern zu schaffen, die Kritik ist laut, die Ränge dagegen leer - und auch sonst stimmt einiges nicht.
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Wettkämpfe im Backofen von Doha
Doha im September: Temperaturen von über 40 Grad Celsius sind normal. Selbst nachts bleibt das Thermometer meist bei über 30 Grad stehen, die Luftfeuchtigkeit liegt bei 73 Prozent. Die Athleten behelfen sich mit Kühlwesten und elektrischen Pillen. Dass die extremen Wetterbedingungen eine große Herausforderung darstellen, war bereits im Vorfeld klar. Aber dass es so extrem wird, wohl nicht...
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Runtergekühltes Stadion
Das Khalifa-Stadion von Doha wird während der WM dank aufwendiger Klimatisierung zwar auf angenehme 25 Grad heruntergekühlt, doch löst auch das nicht alle Probleme. Im Gegenteil: Die extremen Temperaturunterschiede zwischen Stadion-Innerem und Umgebung sind für die Athleten eher eine zusätzliche Belastung. Außerdem finden natürlich nicht alle Wettbewerbe im "Stadion-Kühlschrank" statt.
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Kollaps im 5.000-Meter-Rennen
Zwar finden die 5.000-Meter-Läufe im Innenraum des Khalifa-Stadions statt, doch für Läufer Jonathan Busby sind die extremen klimatischen Bedingungen und der Wechsel zwischen drückender, feuchter Hitze und dem runtergekühlten Stadion mit seiner geringen Luftfeuchtigkeit offenbar zuviel. Zuerst taumelt der Mann aus Aruba, dann fällt er völlig entkräftet auf die Bahn.
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Gemeinsam über die Ziellinie
Braima Suncar Dabo aus Guinea-Bissau zeigt sich als großer Sportsmann und stützt Busby auf den letzten 200 Metern. Die Ziellinie überqueren beide unter dem Jubel der Zuschauer gemeinsam - ein Moment, der die Herzen der Sportfans bei der wohl umstrittensten WM der Geschichte höher schlagen lässt. Das Happy End bleibt aber aus: Busby wird nachträglich wegen "unerlaubter Hilfe" disqualifiziert.
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Schwere Vorwürfe von Athleten
Nicht alle Athleten sorgen für positive Bilder und Schlagzeilen. Geher Yohann Diniz - Weltmeister von 2017 - findet nach dem Wettbewerb über 50 Kilometer Gehen, den er nach 20 Minuten abgebrochen hatte, deutliche Worte: "Da draußen haben sie uns in einen Backofen geschoben. Sie haben aus uns Meerschweinchen gemacht, Versuchstiere", so der Franzose in Richtung der Verantwortlichen.
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Qualen beim Frauen-Marathon
"Es war schrecklich. Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt", sagte die Italienerin Sara Dossena, die nach einem Viertel der Marathon-Distanz abbrechen musste. "Es war beängstigend, einschüchternd und entmutigend", bilanzierte die Kanadierin Lyndsay Tessier nach dem denkwürdigen Rennen in der Hitze von Doha, das nur 40 der 68 gestarteten Athletinnen beenden konnten.
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Alina Reh klappt zusammen
Für die deutsche Hoffnung im 10.000-Meter-Lauf ist ebenfalls vorzeitig Schluss. Alina Reh krümmt sich mit Bauchschmerzen und beendet das Rennen - allerdings spielt hier die Hitze nicht die entscheidende Rolle. Die 22-Jährige kann später Entwarnung geben: "Mein Bauch ist noch etwas flau, aber sonst geht es mir körperlich gut", sagt die mehrfache Junioren-Europameisterin am Tag danach.
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"War ziemlich in Panik"
Die Bilder vom Vorabend bleiben ihr aber wohl genauso im Kopf wie den Zuschauern: Nachdem Reh unter Schmerzen zusammengesackt war musste sie im Rollstuhl von der Laufbahn zur Untersuchung gefahren werden. "Ich wurde gleich gut betreut und habe mich gut aufgehoben gefühlt. Vom Kopf her ist es jetzt schwierig, ich brauche noch ein bisschen, um das für mich zu sortieren", sagte Reh im Anschluss.
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Ärger um Startblockkameras
Eine technische Neuerung in den Startblöcken soll der Leichtathletik weltweit wieder Auftrieb geben. Um spektakuläre, gut vermarktbare Bilder aus Doha zu produzieren, sind in den Startblöcken Kameras eingebaut, die bislang nicht gekannte Nahaufnahmen der Sportlergesichter liefern. Das stößt allerdings nicht bei allen Athleten auf Gegenliebe.
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"Sehr unangenehm"
Deutschlands Sprint-Star ist mit der technischen Neuerung nicht einverstanden: "In den knappen Sachen über diese Kamera zu steigen [...] finde ich sehr unangenehm. War an der Entwicklung dieser Kamera eine Frau beteiligt? Ich glaube nicht", sagte Gina Lückenkemper. Teamkollegin Tatjana Pinto ("sehr fragwürdig, die Kamera da zu platzieren") ließ erkennen, dass auch sie kein Fan davon ist.
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Keiner da
Ein zusätzliches Ärgernis sind die leeren Ränge in der Arena von Doha. Da findet Weltklasse-Leichtahtletik statt und keinen interessiert es. Auch Highlights, wie das 100-Meter-Finale der Frauen (Foto), füllen die Ränge nicht. Gina Lückenkemper findet die Stimmung bei ihrer dritten WM daher auch: "Eher mies!"