Religionskrieg im Nahen Osten?
20. November 2014Um eines vorab klarzustellen: Für ein Massaker an wehrlosen Gläubigen in einer Synagoge kann es keine Rechtfertigung geben. Es ist auf das Schärfste zu verurteilen, denn es ist schlicht barbarisch und in jeder Hinsicht verabscheuungswürdig und sinnlos.
Diese Bluttat markiert einen bisher nie da gewesenen Höhepunkt einer Anschlagsserie, die Jerusalem seit einigen Wochen in Atem hält und von manchen Beobachtern als "individuelle Intifada" bezeichnet wird. Die "Individualisierung des Kampfes" verleiht diesem scheinbar unlösbaren Territorialkonflikt eine neue gefährliche Dimension. Nicht allein aus sicherheitstechnischen Gründen, weil sich solcher Terror praktisch nicht abwehren lässt. Sondern auch, weil sich diese Entwicklung auf beiden Seiten politisch kaum steuern lässt. Und somit dürften die Grundlagen für eine friedliche Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern auf Jahrzehnte zerstört werden.
Gefährliche Langzeitfolgen für den Nahostkonflikt
Noch gefährlicher könnten jedoch die politischen Langzeitfolgen dieser enthemmten Gewalt werden: nämlich die völlige Sakralisierung des Nahostkonflikts. Dies würde eine pragmatische Lösungsfindung noch mehr erschweren und den Konflikt im schlimmsten Falle auf Dauer unlösbar machen.
Gewiss, der Trend zur religiösen Aufladung des Nahostkonflikts ist nicht neu. Religion spielt spätestens seit dem Sechstagekrieg eine wichtige Rolle im Nahen Osten. In Israel gewannen nationalreligiöse Kräfte in den vergangenen 20 Jahren massiv an Bedeutung. Und in den Palästinensergebieten konnten sich radikal-islamistische Kräfte als Folge des faktischen Scheiterns des Friedensprozesses als starke Konkurrenz zur nationalistisch-säkularen PLO etablieren. Vor diesem Hintergrund erreicht die religiöse Aufladung des Nahostkonflikts mit dem Angriffe auf die Synagoge in Jerusalem tatsächlich ein neues, gefährliches Ausmaß. Zumal jüdische Gotteshäuser bis zu diesem Massaker von gezielten Terroranschlägen radikaler Palästinenser weitgehend verschont blieben.
Keine Alternative zur Zweistaatenlösung
Noch haben wir keinen Religionskrieg im Nahen Osten. Doch die Zeit drängt. Denn durch den exzessiven Siedlungsbau der Regierung Netanjahu wird der Weg zur Zweistaatenlösung buchstäblich verbaut. Und ein Ende der Besatzung rückt dadurch in weite Ferne. Das schwächt die moderaten Kräfte auf beiden Seiten, die an einer pragmatischen Lösungsformel arbeiten und nichts von einem "Heiligen Krieg" wissen wollen. Zumal eine realistische Alternative für die international favorisierte Zweistaatenlösung nicht in Sicht ist.
Daher ist es höchste Zeit, dass Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas alles in ihrer Macht stehende tun, um dieser Dynamik der Barbarei Einhalt zu gebieten. Von einem zeitlich und örtlich unbegrenzten Religionskrieg im Nahen Osten würden jedenfalls weder Israelis noch Palästinenser profitieren.