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Politik

Ukraine hat keine Lust mehr auf gestern

Johann Bernd Kommentarbild App
Bernd Johann
21. Juli 2019

Was Demokratie zu leisten vermag, ist gerade eindrucksvoll in der Ukraine zu besichtigen. Die Parlamentswahlen bestätigen einen politischen Umbruch, der mehr als nur neue Gesichter zu bieten hat, meint Bernd Johann.

Auch einer der Neuen: Rockmusiker Swjatoslaw Wakartschuk von der Partei "Holos" (Stimme)Bild: picture-alliance/dpa/Photoshot

Nirgendwo sonst in Europa wird gerade auf demokratische Weise ein politischer Umbruch so rasant und energisch vorangetrieben wie in der Ukraine. Dort erfolgt durch Wahlen ein Austausch alter und unbeliebter Eliten, der nicht nur einen Generationswechsel einleitet, sondern Folgen für die Parteienlandschaft hat.

Treibende Kraft hinter diesem Prozess sind die Menschen in der Ukraine. Sie vertrauen den alten Gruppierungen nicht mehr. Wohl deshalb votierte rund die Hälfte der Wähler bei der Parlamentswahl für neue Parteien und damit für einen radikalen Neustart. Die alten Kräfte mit ihren Parteien wurden abgestraft.

Erneute Bestätigung für den Politik-Neuling Selenskyj

Bis alle Stimmen bei der Wahl für die Werchowna Rada verlässlich ausgezählt sind, dauert es noch etwas. Und weil das ukrainische Parlament je zur Hälfte über Parteilisten und Direktmandate zusammengesetzt wird, wird es auch eine Weile dauern, bis die künftigen Machtverhältnisse geklärt sind. Aber schon jetzt ist deutlich: Die neu gegründete Partei "Diener des Volkes" von Präsident Wolodmyr Selenskyj hat die Wahlen klar gewonnen. Sogar eine absolute Mehrheit ist in Reichweite. Zu Recht beansprucht sie die Regierungsbildung.

DW-Redakteur Bernd Johann

Der Ex-Comedian und TV-Star Selenskyj knüpft wie erwartet an seinen Erfolg bei der Präsidentschaftschaftswahl an, die ihn im April erdrutschartig an die Spitze der Politik in Kiew katapultierte. Die niedrige Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl ist ein kleiner Dämpfer. Grund dafür ist wohl, dass die Wahl vorgezogen wurde und deshalb nun mitten in den Sommerferien stattfand.

Ukrainer wollen einen Neuanfang

Fast alle Kandidaten auf der Liste von "Diener des Volkes", die nun ins Parlament kommen, sind unbekannte Leute. Das ist ihr Schwachpunkt, weil politische Erfahrung fehlt. Doch die Wähler sehen offenbar gerade darin eher den Vorteil: Neue Leute sollen frischen Wind in das Parlament bringen. In einer Demokratie nennt man das Neustart. 

Es ist bemerkenswert, dass neben Selenskyis "Diener des Volkes" noch eine weitere neue Partei knapp die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in die Werchowna Rada überwindet. Es ist die Partei "Holos" (Stimme) des populären ukrainischen Rockmusikers Swjatoslaw Wakartschuk (Artikelbild oben). Auch diese Partei wurde gerade erst gegründet.

Alte Politikerkaste als Verlierer

Die Vertreter der alten Politikerkaste der Ukraine sind die Verlierer dieser Wahl. Dazu gehört die pro-russische "Oppositionelle Plattform - Für das Leben" des Oligarchen Viktor Medwedtschuk, der demonstrativ kurz vor der Wahl noch zu Kreml-Chef Wladimir Putin reiste. Medwedtschuk ist auf engste Weise mit Putin verbunden. Seine Partei wird noch mit etwas mehr als zehn Prozent zweitstärkste Kraft im neuen Parlament. Aber von der früheren Stärke dieser pro-russischen Gruppierung in der Zeit vor dem Krieg im Donbass ist nicht mehr viel übrig. Das schwache Abschneiden zeigt, wie sehr die aggressive Politik Putins gegen die Ukraine das pro-russische Lager dort geschwächt hat.

Verlierer sind auch Julia Tymoschenko mit ihrer Partei "Vaterland" und Ex-Präsident Petro Poroschenkos Partei "Europäische Solidarität". Vor allem für Poroschenko ist die Niederlage bitter. Noch nicht einmal jeder zehnte Wähler hat für seine Partei gestimmt. Das magere Ergebnis dürfte kaum ausreichen, um die von ihm angekündigte starke Opposition anzuführen. Radikale Kräfte spielten bei dieser Wahl übrigens keine Rolle. Anders als in russischen Propagandaberichten behauptet, waren auch bei dieser Wahl wie bereits 2014 rechtsradikale oder faschistische Gruppen nicht erfolgreich.

Bewährungsprobe für Selenskyj beginnt

Für Präsident Selenskyj beginnt nun die eigentliche Bewährung. Vor allem muss er bald erste politische Ergebnisse in Zusammenarbeit mit dem Parlament liefern. Dazu gehören Ansätze für eine Lösung des Konflikts mit Russland und den Separatisten im Donbass, aber auch entschlossene Schritte beim Kampf gegen Korruption und die Vetternwirtschaft der superreichen ukrainischen Oligarchen. Das erwarten nicht nur die Wähler, sondern auch die Partner der Ukraine in Europa.

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