Es gibt wenig, vielleicht auch nichts, das dem ungarischen Ministerpräsidenten wichtiger ist, als an der Macht und im Staat die faktische Nummer eins zu sein. Deshalb nimmt Viktor Orbán Wahlniederlagen sehr persönlich. Nach einer überraschend verlorenen Wahl im Jahr 2002 sagte Orbán einen seiner berühmtesten Sätze: "Die Heimat kann nicht in der Opposition sein!" Wobei mit Heimat seine Partei, seine Wähler und vor allem er selbst gemeint waren. Die Niederlage soll ihn damals, so heißt es aus seinem Umfeld, traumatisch getroffen und in eine persönliche Krise gestürzt haben. Er soll sich auch geschworen haben, alles zu unternehmen, um, wenn er wieder Regierungschef werden würde, eine nochmalige Abwahl unmöglich zu machen.
Nun ist es wieder passiert - zum ersten Mal nach 13 Jahren hat Orbán eine Wahlniederlage hinnehmen müssen. Im Oktober verlor Orbáns Partei Fidesz die Lokalwahlen unerwartet und empfindlich. Zwar konnte Fidesz seine Wählerbasis insgesamt halten und schnitt vor allem in ländlichen Gebieten gut ab. Doch der Stimmenverlust in vielen wichtigen Städten des Landes, darunter auch in Budapest, war von großer symbolischer Bedeutung. Denn das System Orbán mit seinen vielen kleinen und größeren Mechanismen zur Lähmung der Opposition galt als praktisch kaum besiegbar. Man konnte Ungarns Premier, der sich vor der Wahl noch sehr geringschätzig über die "jämmerliche" Opposition geäußert hatte, daher anmerken, wie sehr ihn die Niederlage schmerzte.
Immunisierung gegen den Machtverlust
Nun schlägt Orbán zurück, um sich und sein System namens "Ordnung der Nationalen Zusammenarbeit" noch mehr gegen einen Machtverlust zu immunisieren. Ausdruck dafür sind neue Gesetzesbestimmungen, die das ungarische Parlament dieser Tage verabschiedet hat oder noch verabschieden wird. Sie reichen von der Einschränkung der Fraktionsbildung im Parlament über stärkere Kontrollmöglichkeiten im Kulturbereich bis hin zu weiteren Einschnitten bei der Steuerhoheit von Kommunen. Besonders drastisch sind neue Regelungen bei angeblichen Ordnungswidrigkeiten von Parlamentsabgeordneten während Sitzungen. Sie sind so weit gefasst und geben dem Parlamentspräsidenten so viel Macht und so große finanzielle Sanktionsmöglichkeiten, dass die Opposition praktisch mundtot gemacht werden kann.
Dabei ist das ungarische Parlament nach Änderungen seiner Geschäftsordnung in den Jahren 2013/14 ohnehin schon in großem Maße eine reine Abstimmungsmaschine und die Rolle der Opposition eher dekorativ. Parlamentspräsident László Kövér, ein Propagandist rechtsextremer Verschwörungstheorien, lässt kaum eine Gelegenheit ungenutzt, um Oppositionsabgeordnete und Parlamentsjournalisten abzustrafen.
Ungarns Premier hat sich in den vergangenen Monaten eher moderat verhalten. Der Hauptgrund dafür war, dass er seinem Land den Posten des EU-Erweiterungskommissariats sichern wollte, eines der öffentlichkeitswirksamsten Ressorts der EU-Kommission, das ihm viel Spielraum in seiner Westbalkan-Politik und bei seiner Unterstützung der autoritären Führer der Region eröffnet. Dieses Manöver ist Orbán gelungen.
Keine Wertschätzung für die Grundwerte der EU
Seit dem Tag, an dem Olivér Várhelyi als neuer EU-Erweiterungskommissar bestätigt wurde, schießt Orbán wieder aus vollen Rohren: gegen den US-Börsenmilliardär Soros, gegen Zivilgesellschaft und Opposition, gegen den dekadent-liberalen Westen. Mit Worten oder mit Gesetzen. Das zeigt erneut, dass man sich keine Illusionen über Orbán machen sollte: Die antidemokratische Umgestaltung Ungarns wird weitergehen, Orbán wird die Grenzen seiner Scheindemokratie immer weiter in Richtung eines autoritären, diktatorischen Systems verschieben.
Dass Ungarns Parlament ausgerechnet am Dienstag dieser Woche ein weiteres Mal degradiert wurde - just als in Brüssel im Artikel-7-Verfahren wegen Rechtsstaatsverletzungen gegen Ungarn verhandelt wurde - zeigt den Grad an Wertschätzung, den Orbán für die EU und ihre Grundwerte empfindet.