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Gesellschaft

Stephen Colbert, Rousseau und Corona

DW MA-Bild Cristina Burack
Cristina Burack
26. April 2020

Viele Staaten beginnen, die Regeln gegen Corona zu lockern. Dächten wir wie der Komödiant und der Philosoph, dann würden wir Freiheit und Gesundheitsschutz nicht als Gegensatz verstehen, meint Cristina Burack.

Was haben ein amerikanischer Komiker und ein französischer Philosoph des 18. Jahrhunderts mit dem Coronavirus zu tun? Wenn ich in den zurückliegenden Tagen Nachrichten über das Coronavirus gelesen habe, kam ich nicht umhin, an Stephen Colbert und Jean-Jacques Rousseau zu denken. Ein merkwürdiges Paar vielleicht, aber eines, das dazu beitragen kann, unser Denken über die Pandemie und die Schutzmaßnahmen zu beeinflussen.

In Debatten über das Coronavirus werden der Erhalt der Gesundheit von möglichst vielen Menschen und die Freiheit des Einzelnen häufig als diametrale Gegensätze dargestellt. Nur Einschränkungen und Verbote könnten die Verbreitung der Krankheit aufhalten. Vor diesem Hintergrund wird nun selbst die Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes im öffentlichen Raum, die in Deutschland ab diesem Montag gilt, von vielen als weiterer Eingriff in ihre Rechte verstanden - die nächste Stufe der staatlich verordneten Restriktionen.

Eine Lektion in Improvisation

Stichwort Stephen Colbert. Nach seinem Abschluss an der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois startete Colbert seine Karriere als Schauspieler an einem Improvisationstheater in Chicago. Für eine Rede zum Abschluss des Akademischen Jahr 2011 kehrte er an seine Universität zurück und sprach dort über Beziehungen unter Schauspielern:

"Eines der Dinge, die mir schon früh beigebracht wurden, ist, dass man nicht die wichtigste Person auf der Bühne ist. Alle anderen sind das. Und wenn diese die wichtigsten Personen auf der Bühne sind, muss man ihnen natürlich Aufmerksamkeit schenken und ihnen dienen. Aber die gute Nachricht ist, dass man auch selbst auf der Bühne ist. Für die anderen sind also Sie hoffentlich die wichtigste Person, und alle werden Ihnen dienen."

DW-Redakteurin Cristina BurackBild: DW/P. Böll

Die Weisheit dieser Rede lässt sich auch auf die gegenwärtige Situation übertragen, gerade jetzt, da die ersten Staaten mit der Lockerung von Beschränkungen experimentieren. Die Menschen werden einander wieder im öffentlichen Raum begegnen - sie teilen sich sozusagen die Bühne. Wir müssen jetzt wie Schauspieler denken: Wie kann ich der wichtigsten Person auf der Bühne dienen? Mit anderen Worten: Wie kann ich diese am besten schützen? Da die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, muss der Schutz der Mitmenschen auf absehbare Zeit all unser Handeln prägen, wenn wir wieder miteinander in Kontakt treten.

Das eine ist der zwingende Abstand von zwei Metern zu allen anderen. Das andere ist das unbedingte Tragen einer Maske. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine einfache Maske nicht viel dazu beiträgt, Sie selbst vor einer Ansteckung zu schützen. Aber sie kann wirksam verhindern, dass Sie andere anstecken. Sie schützen mich in meinem täglichen Leben und ich wiederum schütze Sie in Ihrem. Betrachtet aus der Perspektive Steven Colberts, sind Einschränkungen dann keine Einschränkungen mehr: Sie sind vielmehr Garantie dafür, dass jeder Einzelne auf der Bühne so weit wie möglich am Leben teilhaben kann.

''Zur Freiheit gezwungen'

Damit dies jedoch funktioniert, müssen alle mitmachen. Und genau hier kommt Rousseau ins Spiel. Im Gesellschaftsvertrag, seiner monumentalen Abhandlung aus dem Jahr 1762, legt er dar, wie der Einzelne einen "Souverän" legitimiert, der dann den allgemeinen Willen als Gemeinwohl durchsetzt. Aber, wie Rousseau einräumt, kann das individuelle Eigeninteresse ein ganz anders sein, als das Interesse der Gemeinschaft.

Diese individuellen Eigeninteressen sind wohl besonders hoch in Deutschland, das bisher von den hohen Opferzahlen anderer Nationen verschont geblieben ist. Viele glauben daher, das Schlimmste sei vorbei, und wollen wieder ihr altes Leben zurück. Oder sie glauben, alles sei unter Kontrolle und lassen deshalb alle Vorsicht fahren. Dort, wo ich lebe, legen die Massen von Menschen unterwegs mit unbedeckten Gesichtern, diesen Schluss jedenfalls nahe.

Regeln müssen durchgesetzt werden. Oder, um es mit Rousseaus Worten zu sagen: Wir müssen zum Gehorsam gezwungen werden, denn dies "bedeutet nichts weniger, als dass jeder Einzelne gezwungen wird, frei zu sein". Seiner Meinung nach erhöhen die von allen eingehaltenen Regeln unsere Freiheit, da sie uns vor "persönlicher Abhängigkeit" schützen. Ob nun mit mündlichen Ermahnungen, Platzverweisen oder sogar Geldstrafen - die Einschränkungen dieser nächsten Phase im Kampf gegen das Coronavirus müssen von allen eingehalten werden. Nur dann können sie jeden Menschen davor schützen, dass sein individuelles Recht - einschließlich des Rechts, von einem anderen nicht verletzt zu werden - durch die Launen eines anderen verletzt wird. Die erzwungenen Einschränkungen für alle maximieren die Rechte jedes Einzelnen in der Gesellschaft.

Erzwingen, einander als zu Priorität zu betrachten

"Das ganze Leben ist Improvisation", fuhr Colbert in seiner Eröffnungsrede fort. "Sie haben keine Ahnung, was als Nächstes passieren wird, und Sie machen meistens einfach das, was sich als Nächstes ergibt."

Dies fasst die Probleme der Gegenwart definitiv zusammen: Niemand weiß, welchen Verlauf das Virus in Deutschland in den nächsten Wochen nehmen wird. Wir wissen aber, dass jeder von uns durch sein Handeln viel tun kann, um uns gegenseitig - und damit uns selbst - zu schützen. Und dass diese Rücksichtnahme notfalls erzwungen werden muss. Lassen Sie uns also weiter improvisieren - mit Colbert und Rousseau im Hinterkopf. Betrachten wir einfach alle anderen um uns herum als die wichtigste Person auf der Bühne.