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Politik

Wenn sogar der Zahnarzt grün wählt

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
7. Juni 2019

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Grünen in Umfragen die CDU/CSU auf Platz eins im Parteien-Ranking abgelöst. Alles nur wegen des Klimaschutzes? Auch, aber nicht nur, meint Jens Thurau.

Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Haben die Meinungsforscher von infratest-dimap da wirklich genau nachgefragt? Kann das sein? Die Grünen auf Platz Eins im Parteienranking in Deutschland, vor der Union? Ja, sie haben. Infratest-dimap gilt als eines der seriösesten Umfrageinstitute in Deutschland. Und das Ergebnis ihrer jüngsten Befragung, Mitte dieser Woche durchgeführt, lautet: Grüne 26 Prozent, Union 25. Und - nicht ganz unwichtig in diesem Zusammenhang: Die SPD kommt nur noch auf 12 Prozent. In Worten: Zwölf. Wir reden hier über die Partei Willy Brandts und Gerhard Schröders, die früher einmal 40 Prozent der Wähler an sich binden konnte. Dazu später.

Was heißt das jetzt? Hat die junge Schwedin Greta Thunberg die Deutschen mit ihrer Schüler-Bewegung für den Klimaschutz verhext? Gibt es kein anderes Thema mehr als den Kampf gegen die Treibhausgase? Der doch schon so lange geführt wird und das auch noch oft quälend erfolglos?

Klimaschutz ist eben doch nicht alles

Die Wahrheit ist komplexer. Erst einmal: Die Grünen waren schon oft stark in den Umfragen und dann enttäuscht, wenn wirklich gewählt wurde. Das hat sich geändert: Schon die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im vergangenen Jahr waren Triumphe, die "Umweltschutzpartei" holte satte Gewinne nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land und in allen Bevölkerungsschichten. Das gleiche Bild gab es zuletzt bei den Europawahlen, und da kam noch ein großer Siegeszug bei den jungen Wählern hinzu. Es ist also tatsächlich etwas ins Rutschen geraten im deutschen Parteiensystem, zugunsten der "Umweltschutzpartei".

DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Warum steht "Umweltschutzpartei" hier in Anführungsstrichen? Weil es so eben nicht mehr stimmt, nicht so pauschal. Natürlich: Der Klimaschutz ist zentrales Thema, aber die Grünen haben sich schon lange in allen Bereichen Kompetenzen erarbeitet. Sie stehen ohne Wenn und Aber zu einem gemeinsamen Europa und für eine liberale Flüchtlingspolitik, und es gibt genug Menschen in Deutschland, die diese Haltung teilen. Sie haben gute Kontakte zur Wirtschaft, vielleicht weniger zur Großindustrie und den Autobauern, aber zum Mittelstand allemal.

Und sie haben frische neue Leute an der Spitze. Lange hatten sie das Problem, wer denn den früheren Übervater Joschka Fischer ersetzen könnte. Die Antwort ist gefunden: Annalena Baerbock und Robert Habeck sind die Gesichter des grünen Aufschwungs, der vor allem eines ausdrückt: Wir wissen nicht mehr alles besser. Aber wir haben eine Idee, wie dieses Land in - sagen wir - zehn Jahren aussehen soll.

Die Schwäche der SPD

Aber viel, um auf die SPD zurückzukommen, hat der grüne Aufschwung eben auch zu tun mit der Tragödie um die Sozialdemokraten. Die Schwäche der SPD wird zur Stärke der Grünen. Lange behandelte die SPD die Grünen wie ihre eigenen, verlorenen Kinder, die irgendwann schon wieder zur Vernunft kommen würden. Aber die Kinder sind jetzt endgültig groß und setzen eigene, nach vorn gerichtete Akzente. Früher gab es diese lustige Faustformel: Der reiche Zahnarzt wählt CDU oder FDP - was sonst? Seine Frau sorgt sich derweil um die Umwelt und kann es sich leisten, grün zu wählen. Mittlerweile gibt es offenbar genug Zahnärzte, die selbst grün wählen.

Geht das jetzt so weiter? Haben wir eine neue Volkspartei? Abwarten. In ihrer DNA sind die Grünen immer noch eine Programmpartei, ihr Personal ist nicht darauf eingestellt, ganz vorn zu stehen und die Richtlinien der gesamten Politik zu bestimmen. Aber so langsam müssen sich die Grünen mal Gedanken machen, wie das klingt: "Bundeskanzler Robert Habeck". Klingt verrückt, zugegeben. Habeck selbst nennt es "unseriös". Aber zumindest einen Kanzlerkandidaten aufzustellen bei der nächsten Wahl - darum werden die Grünen wohl nicht mehr herum kommen.