1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Corona: Mehr Beileid, bitte!

18. Juli 2020

Die Welt starrt auf die Todeszahlen von Corona und versucht gleichzeitig, zur Normalität zurückzukehren. Das kann nicht funktionieren. Die Pandemie erfordert eine kollektive Trauerkultur, meint Astrid Prange.

Lichtermeer für die Corona-Toten: Im thüringischen Zella-Mehlis zündet Katholikin Gertrud Schop Kerzen für die Verstorbenen an Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Meyer

Spanien macht es vor. Das Land, in dem 29.000 Menschen an COVID-19 gestorben sind, hat innegehalten. In einer großen Trauerzeremonie gedachte es am Donnerstag der Toten, von denen sich die Angehörigen häufig nicht verabschieden konnten.

An dem Staatsakt nahmen nicht nur die spanische Königsfamilie und die politische Elite des Landes teil. Auch WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kamen zu der Zeremonie.

Leider ist Spanien eine rühmliche Ausnahme. Denn während weltweit immer mehr Menschen um ihre an Corona verstorbenen Angehörigen trauern, üben sich Verantwortungsträger immer noch im Verdrängen der Pandemie. Insbesondere in Ländern, in denen die Zahl der Todesopfer rasant steigt.

"Neue Normalität"?

Während in Brasilien und in den USA Massengräber ausgehoben werden, öffnen gleichzeitig Shoppingcenter und Fitnessstudios. In Berlin feiern Partygänger vor einem Krankenhaus "Schlauchbootpartys". In Großbritannien "vergessen" Urlauber an überfüllten Stränden jegliche Abstandsregeln.

Doch warum scheint es schier unmöglich, für einen Augenblick innezuhalten? Warum gibt es ausgerechnet in dem Moment, wo die Trauernden am meisten Beistand und menschliche Nähe brauchen, so wenig Beileid? Warum hat angesichts der mehr als 500.000 Corona-Toten weltweit kein Land außer Spanien einen nationalen Gedenk- oder Trauertag ausgerufen?

DW-Autorin Astrid PrangeBild: DW/P. Böll

Die Antwort lautet: Hinter der sogenannten "neuen Normalität" verbirgt sich die Angst vor den Folgen einer kollektiven Trauer. Denn Trauer kann eine beachtliche Macht entfalten. Sie schweißt zusammen und verlangt Respekt. Sie löst Wut und Protest aus und rüttelt an gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

Trauer, eine stille Macht

Was würde passieren, wenn sich die Trauer von Millionen Menschen in den USA oder Brasilien Bahn bräche? Wenn Menschen Stunden auf dem Friedhof verbrächten statt in den sozialen Netzwerken? Wenn Beileid und Mitgefühl eine Stunde lang wichtiger wären als all die Skandale, vermeintlich wichtigen politischen Debatten und sonstigen Katastrophen?

Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass ein solches kolletiktives Innehalten und Besinnen viele politische Verantwortungsträger als handlungsunfähige Phrasendrescher entlarven würde. Denn Slogans wie "America first" oder "Brasilien über alles" werden trauernde Familienangehörige wohl kaum trösten, und erst recht nicht die wirklichen politischen und gesellschaftlichen Probleme lösen.

Wenn die Epidemie abebbt, zählt nicht nur die Statistik der Corona-Toten, sondern auch die Statistik der Corona-Genesenen. Es zählen nicht nur die zahlreichen Fehler, die bei der Bekämpfung der Pandemie begangen wurden, sondern auch Fähigkeit, diese fortlaufend zu korrigieren. Es zählt, wer die Würde der Toten wahrt und ihre Lektionen annimmt.

Die Corona-Toten und ihre Familienangehörigen verdienen mehr Respekt und Verständnis für ihre Trauer. Sie dürfen mit diesem Schmerz nicht alleine gelassen werden. Nur mit gemeinsamen Gedenkfeiern und symbolträchtigen Gesten kann der Verlust hunderttausender Menschen langfristig hoffentlich überhaupt irgendwann einmal bewältigt werden.

Die Bilder von Massengräbern und sterbenden Patienten auf Krankenhausfluren haben sich in das weltweite kollektive Gedächtnis eingegraben. Der Tod als ständiger Begleiter ist sichtbarer geworden. Ohne kollektive Trauer ist das Corona-Trauma nicht zu bewältigen.